Deutsches Team vor der Eishockey-WM:Rost abkratzen und in Schwung kommen

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"Mister Bonaventura", "feiner Mensch" oder auch "Pfundskerl": Bundestrainer Harold Kreis, der bei seinen Spielern hohen Respekt genießt. (Foto: Armin Weigel/dpa)

Harold Kreis muss bei seinem WM-Debüt als Eishockey-Bundestrainer auf ein Dutzend Stammspieler verzichten. Trotz schweren Auftakts gilt das Viertelfinale als Minimalziel. Das liegt vor allem an einem Hoffnungsträger aus der NHL.

Von Johannes Schnitzler, Tampere

Manchmal hilft es, erst einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, wenn man in die Zukunft schauen will. Also Rückblende, gut 40 Jahre in der Zeit zurück, eine spanische Urlaubsinsel, die Stimmung in der Mannheimer Reisegruppe war prächtig. Der Titel "König von Mallorca" war noch nicht erfunden, überhaupt war Gran Canaria noch viel angesagter, und deshalb darf Harold Kreis sich seit damals "Mister Bonaventura" nennen. Das ist kein verstecktes Balearen-Eiland, sondern ein Hotel, in dem ermittelt wurde, wer wohl den knackigsten Oberkörper hat. Die Details beschwören will Klaus Mangold zwar nicht, er sagt, "genau da war ich grad nicht dabei". Aber an eins erinnert der damalige Teamkollege sich lückenlos: "Der Harry war ein Riesenspaßvogel" - sobald die Saison vorbei und die Arbeit erledigt war.

Der Harry (oder Harri, wie Mangold sagt) war ein 19 Jahre alter schüchterner Junge aus Winnipeg in der kanadischen Provinz Manitoba, wo es Elche gibt und Bären und Karibus. Und kernige Kerle wie Kreis. Gemeinsam mit einer Handvoll anderer kanadischer Eishockeyspieler, die Namen trugen wie Westernhelden aus Schwarzweiß-Filmen und Privatermittler aus Siebzigerjahre-Krimis, Roy Roedger oder Manfred "Mannix" Wolf, war Kreis nach Europa gekommen, um zu sehen, ob sich hier aus einem Talent ein Beruf machen ließe. Heinz Weisenbach, der Trainer des soeben in die Bundesliga aufgestiegenen Mannheimer ERC, hatte sie gezielt in Nordamerika gesucht, mit Zeitungsinseraten an Orten mit einer hohen Dichte an Eishockeyspielern und deutsch klingenden Namen. Ein Jahr später, 1980, war Mannheim erstmals deutscher Meister.

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Kreis und die anderen blieben in Mannheim, Kreis noch etwas länger. 1997 beendete er seine Spielerkarriere nach dem zweiten Meistertitel, nach knapp 900 Partien in der höchsten deutschen Klasse für Mannheim und 180 Länderspielen für Deutschland. Klaus Mangold, 73, der Kapitän des Meisterteams von 1980, sagt: Kreis war einer der besten deutschen Verteidiger überhaupt.

Nun, mit 64 - und damit in die Gegenwart - ist "Mister Bonaventura" deutscher Bundestrainer, steht vor seiner ersten Weltmeisterschaft als hauptverantwortlicher Coach und nicht einmal alle Auguren Roms zusammen hätten aus dem Flug eines dressierten Vogelschwarms eine bessere Verheißung lesen können als jene, die dem Wort Bonaventura innewohnt: Es bedeutet "günstiger Wind" oder "glückliches Schicksal".

Was soll also schiefgehen? Nun.

Zum Auftakt gegen den elfmaligen Weltmeister Schweden (Freitag, 19.20 Uhr), gegen Gastgeber und Titelverteidiger Finnland (Samstag, 19.20 Uhr) und die USA (Montag) warten "richtige Bretter", sagt Verteidiger Moritz Seider. Danach geht es möglicherweise schon nicht mehr nur um das Abschneiden bei dieser WM, sondern auch um die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2026. Die ersten acht Nationen der Weltrangliste sind direkt qualifiziert. Deutschland liegt nach den verpatzten Spielen von Peking 2022 auf Rang neun. Ob die aktuell vom Weltverband IIHF von der WM ausgeschlossenen Russen 2026 in Mailand teilnehmen dürfen, entscheidet das Internationale Olympische Komitee erst 2024. Nicht nur deshalb ist das Viertelfinale bei der 86. Eishockey-WM in Tampere/Finnland und Riga/Lettland das erklärte Minimalziel.

Nach den Erfolgen unter Marco Sturm (Olympia-Silber 2018) und Toni Söderholm (zwei Mal WM-Viertelfinale, ein Mal Halbfinale) ist die Erwartungshaltung gestiegen. Gut so, finden die Spieler, gut so, findet auch der Trainer. Die Mannschaft habe sich in den vergangenen Jahren sehr entwickelt und solle "weiter mit diesem Selbstvertrauen in jedes Spiel gehen". Druck verspüre er nicht, sagt Kreis: "Wir vertrauen den Spielern, die wir haben."

Einige Top-Profis sind unabkömmlich, andere verletzt oder aus privaten Gründen indisponiert

Genau das war in der Vorbereitung das große Rätsel. Auf mehr als ein Dutzend arrivierte Spieler muss Kreis verzichten, darunter die in den NHL-Playoffs beschäftigten Leon Draisaitl und Philipp Grubauer, mehrere Spieler von Meister München sowie Tom Kühnhackl und Tobias Rieder, die sich gerade erst im Finale der schwedischen Meisterschaft gegenüberstanden. Die meisten sind verletzt, andere aus privaten Gründen indisponiert. So steht unter dem Mannheimer Idol Kreis zum ersten Mal seit 1994 kein einziger Spieler aus Mannheim im Aufgebot. Trotzdem verzichtet Kreis etwa auf Dominik Bokk, Maximilian Kammerer und Daniel Schmölz, mit jeweils 24 Treffern die drei erfolgreichsten deutschen Torschützen der abgelaufenen DEL-Saison. "Wir wollen nicht den einzelnen Topscorer", sagt Kreis. "Wir wollen, dass sich das Scoring auf möglichst viele Spieler verteilt." Der Erfolg müsse über die Mannschaftsleistung kommen.

Hat seine Verletzung auskuriert: Moritz Seider. (Foto: Monika Skolimowska/dpa)

Acht Spieler aus dem 25-köpfigen Kader fahren zum ersten Mal zu einer WM. Am Mittwoch setzte Kreis noch einmal das lange Messer an und strich vier Verteidiger. Er kann es sich leisten, weil in NHL-Profi Moritz Seider (Detroit Red Wings) sowie Kai Wissmann und Leon Gawanke aus der American Hockey League drei WM-erfahrene Abwehrspieler in Tampere zum Team stoßen. Und auch, weil er denen, die zu Hause bleiben müssen, die Botschaft nicht wie ein Todesurteil überbringt. Der ehemalige Nationalspieler Patrick Reimer hat Kreis zwei Jahre als Trainer in Düsseldorf erlebt, er sagt: "Harry ist ein sehr feiner Mensch. Er versteht es sehr gut, mit seinen Spielern zu kommunizieren. Und obwohl er nicht Muttersprachler ist, ist er rhetorisch unglaublich gut vor der Mannschaft."

Wie zur Bestätigung spielt sich einige Tage vor der Abreise nach Tampere im Münchner Teamhotel folgender Dialog ab: Kreis und sein Assistenztrainer Alexander Sulzer, ein gebürtiger Kaufbeurer, der so lange in Nordamerika gespielt hat, dass ihm manches deutsche Wort entfallen ist, sucht nach der richtigen Beschreibung für einen Spieler: "Was heißt versatility?", fragt Sulzer. Kreis assistiert: "Vielseitigkeit."

Wichtige Spieler sind rechtzeitig fit - darunter auch der junge, mehrfach ausgezeichnete Verteidiger Moritz Seider

Die kurze Szene spricht dafür, wie gut das nach Söderholms überraschendem Abschied erst seit März amtierende deutsche Trainerteam schon aufeinander eingespielt ist. Neben Kreis und Sulzer gehören dazu der Finne Pekka Kangasalusta, Torwarttrainer Sebastian Elwing, Thomas Krauskopf (Video) und Arne Graskowiak (Athletik). Mit der Mannschaft, zumal durch die vielen Veränderungen, ist es eine Annäherung in möglichst schnellen Trippelschritten. "Es bedarf Zeit, sich aufeinander einzulassen", sagt Moritz Müller. Der ist der Kapitän, oder wie Kreis sagt, "seit Jahren ein Leistungsträger und ein Kulturträger dieser Mannschaft".

Es gibt noch eine dritte Kategorie in Kreis' Typologie: den Hoffnungsträger. Anders gesagt: Es gibt Moritz Seider (der außerdem ein Leistungsträger ist, Mehrfachnennungen möglich). Seider ist neben John-Jason Peterka (Buffalo) und Nico Sturm (San Jose) einer von drei NHL-Profis im Kader - und mit gerade einmal 22 Jahren derjenige, dessen Ankunft diese Woche das lauteste Echo hervorrief. Auch Seider ist nur ein Teil der Mannschaft. Aber mit ihm, der in den vergangenen zwei Jahren eine Auszeichnung nach der anderen abräumte (bester Verteidiger in der schwedische Liga, bester Verteidiger der WM 2021, "Neuling des Jahres" in der NHL), ist diese Mannschaft eine andere.

Auch Seider hatte Kreis wegen mehrerer Verletzungen zunächst abgesagt, sich dann aber einsatzbereit gemeldet. Nach einem Monat Pause sei er wieder "vollständig gesund", müsse aber noch "ein bisschen den Rost abkratzen und wieder in Schwung kommen". Über den Auftakt sagt er: "Wir brauchen einen ordentlichen Start. Wenn wir als Mannschaft auftreten, sind wir sehr schwer zu schlagen."

Verantwortlich dafür ist Harold Kreis. Glaubt man Weggefährten, ist keiner besser geeignet für diese heikle Mission. Sein ehemaliger Kapitän Klaus Mangold sagt: "Der Harry ist ein Pfundskerl." DEB-Kapitän Moritz Müller sagt: "ein angenehmer Mensch, fair, sehr kommunikativ". Patrick Reimer sagt: "Harry ist ein sehr feiner Mensch. Am Ende wird wohl auch er an Ergebnissen gemessen werden. Ich denke aber, dass er sich durch seine Erfahrung nicht den Druck machen lässt, den ein jüngerer Trainer vielleicht hätte, auch nicht nach den Erfolgen von Marco und Toni." Auch dann nicht, wenn "Mister Bonaventura" nach drei WM-Spielen womöglich ein schärferer Wind ins Gesicht bläst.

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