DFB vor Länderspiel gegen die Ukraine:Kampf um die goldene Generation

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"Die zehn Prozent, die fehlen, die machen es eben aus. Um die geht's mir", hat Bundestrainer Hansi Flick (rechts) gerade über den nicht nominierten Niklas Süle gesagt. (Foto: Federico Gambarini/dpa)

Die Spieler der Jahrgänge 1995 und 1996 waren mal ausersehen, den deutschen Fußball auf neue Höhen zu führen. Nach drei missratenen Turnieren hat der Bundestrainer den Tonfall verschärft - es ist ein letzter Versuch.

Von Christof Kneer, Bremen

Rund um Weihnachten hatte Hansi Flick diese Bilder im Kopf. Immer wieder blitzten Szenen von der WM in Katar auf, immer wieder kam auch Antonio Rüdiger in Flicks Kopf zu Besuch, obwohl er dort gar nicht eingeladen war. Flick sah Rüdiger im Spiel gegen Spanien eine Sekunde zu früh starten, er sah den Freistoß, den Kopfball und das Tor, das keine Anerkennung fand. Wie dieses Turnier für Flicks Elf im Falle einer 1:0-Führung wohl verlaufen wäre? Solche Fragen quälten ihn.

Die Hauptrolle in Flicks Kopfkino spielte aber Niklas Süle.

"Das sind individuelle Fehler, für die wir büßen mussten": So hatte man Flick zur allgemeinen Überraschung nach der WM-Auftaktniederlage gegen Japan sprechen hören, und noch verblüffender als dieser Satz war der Satz, der folgte. Da müsse der Niklas "einfach aufpassen", sagte Flick und verstieß damit bewusst gegen sein eigenes erstes Gebot: Kritisiere nie öffentlich einen Spieler! Flick ließ auch zu, dass Süle nach dieser Partie von einer empörten Öffentlichkeit der strafbaren Abseitsverschleppung angeklagt wurde. "Ganz, ganz schlecht" sei Süles passives Verhalten vor diesem Gegentor gewesen, grantelte der Fernsehrichter Bastian Schweinsteiger, "das mag ich nicht".

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Über ein halbes Jahr ist seitdem vergangen, und diese Bilder und Sätze sind so aktuell wie nie. Mit dem Spiel gegen die Ukraine beginnt am Montag der kompakte Sommer-Dreiteiler der deutschen Nationalelf, die sich noch nicht so gut von der WM erholt hat wie ihr zuständiger Bundestrainer. Flick hat nach dem Turnier Yoga und Atemübungen gemacht, sich gut ernährt und die Telefonnummer gewechselt. Die Nationalmannschaft kann das nicht.

Der Bundestrainer hat Niklas Süle nun nicht für die Länderspiele gegen die Ukraine, Polen (16. Juni in Warschau) und Kolumbien (20. Juni in Gelsenkirchen) nominiert, schon für die Partien im März hatte er ihm demonstrativ eine Einladung verweigert. Seine Sätze von damals hat er mit etwas aktuellerem Sound neu aufgelegt: Süle habe als Verteidiger "riesiges Potenzial", hat Flick gerade der FAZ gesagt, "aber ich finde, er lässt noch einiges liegen. Ich will, dass er von seiner Einstellung, von seiner Mentalität einen Schritt nach vorne macht."

Hansi Flick ist nicht der einzige Trainer, dem diese Generation zu schaffen macht

Jeder Nationalspieler solle den Anspruch haben, "das Maximum aus seinem Potenzial zu machen", sagte Flick, "mit weniger durchkommen, das entspricht nicht meiner Mentalität". Und an genau dieser Stelle wird aus der Süle-Geschichte eine Geschichte der aktuellen deutschen Nationalmannschaft.

In einem Länderspieljahr ohne Wettbewerbsspiele wird vom Bundestrainer ein herausforderndes Multitasking erwartet. Zwar muss er sich mit seiner Elf für nichts qualifizieren, weil sich Deutschland die Teilnahme an der EM 2024 durch die Gastgeberrolle listigerweise schon gesichert hat. Umso mehr muss Flick nun einige Dinge, die sich vermeintlich ausschließen, gleichzeitig tun.

Er muss experimentieren und eine Stammelf einspielen. Er muss die Verteidigung stärken und den Angriff schärfen. Er muss den Spielern Sicherheit verleihen und sie unter Stress setzen. Er muss lieb haben und streng sein. Für all diese unterschiedlichen Prozesse steht Niklas Süle mit seinem gewaltigen Körper pars pro toto.

Betrachtet man ein Jahr vor dem Heimturnier das große Bild, dann geht es aber um weit mehr als um einen schwer veranlagten Abwehrspieler, der manchmal einen Burger zu viel isst. Es geht um eine ganze Generation, von der man auch mal ein ziemlich anspruchsvolles Multitasking erwartet hat. Die Angehörigen des früh glorifizierten 1995/96er-Jahrgangs - Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Niklas Süle, Serge Gnabry, Timo Werner, Julian Brandt, Thilo Kehrer - sollten im deutschen Fußball die Macht übernehmen und ihn in eine neue Zeit führen, allerdings, ohne die alte Zeit dabei zu vergessen. Sie sollten einen zeitgenössischen Fußball aufführen und mit dem Widerstandsgeist ihrer historischen Vorgängermodelle kombinieren. Bisher, das muss man sagen, ist da irgendetwas fürchterlich schief gegangen.

Dürfen sich von Flicks Zehn-Prozent-Ansage auch angesprochen fühlen: Timo Werner (links) und Leon Goretzka (rechts, zusammen mit Lars Stindl) und alle Kollegen aus den 1995er-/1996er-Jahrgängen, die hier beim Confederations Cup 2017 in Russland noch bis ins Finale vorstießen. (Foto: Yuri Cortez/AFP)

So lässt sich die Tonfallverschärfung des Trainers Flick nun auch wie der dringende Versuch lesen, seinen Prädikatsjahrgang nach drei missratenen Turnieren doch noch durchzusetzen. Flick ist ja nicht der einzige Trainer, dem diese vermeintlich goldene Generation zu schaffen macht. Die Coaches, die sich zuletzt an der Führung dieser Generation versuchten, haben mitunter ganz schön klein ausgesehen, obwohl sie große Namen tragen. Julian Nagelsmann hat beim FC Bayern erleben müssen, wie Serge Gnabry zum Klamottenwechsel mal kurz nach Paris ausbüxt, er hat Leroy Sané den Mannschaftsbus verpassen sehen, und von Leon Goretzka hat er manchmal gar nichts gesehen, obwohl der nachweislich auf dem Feld stand. Bei Süle kennt er die bangen Blicke auf die Waage. Auch Nachfolger Thomas Tuchel kämpft erkennbar mit dem Zugang zu diesen Spielern, deren Talent nur von ihrer Unberechenbarkeit übertroffen wird - abgesehen vom Klassensprecher Kimmich, den das alles wahnsinnig macht. All das, was die Kumpels schleifen lassen, versucht er mit zu erledigen, zusätzlich zu seinen eigenen, nicht kleinen Aufgaben. Damit überfordert er sich manchmal, so wie sich die Klassenkameraden manchmal unterfordern.

Welchen Sané bekommt man, wenn man ihn aufstellt? Und welchen Gnabry, welchen Goretzka, welchen Süle?

Aus den 95/96ern ist bislang eine 90-Prozent-Generation geworden, die jede Mannschaftsaufstellung zur Schätzfrage macht. Nie wissen die Trainer genau, welchen Sané sie bringen, wenn sie ihn bringen, ob es der scharfe Sané auf der Höhe seines Könnens ist, ob doch wieder der lässige aufläuft oder der mit den hängenden Schultern. Fast ebenso schwer vorherzusehen ist, welchen Gnabry, welchen Goretzka die Trainer im Nominierungsfall bekommen oder ob Niklas Süle aus Versehen Hans-guck-in-die-Luft spielt, anstatt den Gegner ins Abseits zu stellen. "Die zehn Prozent, die fehlen, die machen es eben aus. Um die geht's mir", hat Flick gerade über Süle gesagt, aber eigentlich meint er sie damit alle.

"Ich habe den Spielern gesagt, dass wir erwarten, dass sie ans Limit gehen, dass sie auch leiden", hat Flick am Sonntag noch mal betont. Ein Turnier hat er als Trainer schon verschenkt. Der Kampf ums nächste hat längst begonnen.

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