DFB-Torhüter Manuel Neuer:Fehlerfreies Harakiri

Lesezeit: 4 min

Waghalsig, aber gut: Manuel Neuer (rechts) gegen Islam Slimani. (Foto: Getty Images)

Wer ist der beste Torhüter der Welt? Nach Manuel Neuers starkem Auftritt im WM-Achtelfinale gegen Algerien ist die Frage leicht zu beantworten. Neuer rettet das DFB-Team mit seinen Ausflügen. Nur Oliver Kahn hat etwas zu mosern.

Von Thomas Hummel, Porto Alegre

Ist Manuel Neuer der beste Torwart der Welt? Andreas Köpke wehrte ab, er halte nichts von derartigen Einstufungen. Stattdessen erklärte er: "Er ist auf jeden Fall der kompletteste. Im Moment sehe ich auch keinen besseren." Der Torwarttrainer der Nationalmannschaft möchte keine Welttorwart-Rangliste erstellen, um dann Manuel Neuer auf Platz eins zu setzen.

Aber was sollte er anderes tun? Nach diesem Abend in Porto Alegre zumal, an dem der 28-Jährige der Fußballwelt gezeigt hatte, dass Deutschland nicht nur den vermutlich besten Torwart des Universums dabei hat. Sondern dass dieser fabelhafte Kerl gleichzeitig auch Abwehrspieler ist. Und zwar der beste, der für Deutschland im Achtelfinale gegen Algerien auf dem Feld stand.

Manuel Neuer zeigte in der kühlen Hafenstadt im Süden Brasiliens eine famose Leistung. Ausnahmsweise können die Statistiker keinen Hinweis darauf liefern, wie groß sein Anteil am 2:1-Sieg der deutschen Mannschaft war. Oder daran, dass er bis zur 121. Minute kein Gegentor hinnahm. Die Statistiker zählen bei Torhütern nur Dinge wie Paraden, Fehler, gefangene Flanken et cetera. Doch damit hatte Neuer kaum zu tun. Genau einen gefährlichen Schuss musste er halten und in der 122. den letzten Kopfball-Versuch des nimmermüden Stürmers Islam Slimani. Sonst sah die Welt einen Torwart, der ständig weit vor seinem Gehäuse die Bälle klärte, bevor die flinken Algerier sie überhaupt aufnehmen konnten.

DFB-Elf in der Einzelkritik
:Tanzstunde mit Mertesacker

Der deutsche Innenverteidiger begeistert mit perfekt gesetztem Ausfallschritt, Philipp Lahm verfehlt die Lieferadresse und Thomas Müller gründet eine Skatrunde. Deutschland beim 2:1 gegen Algerien in der Einzelkritik.

Von Philipp Selldorf, Porto Alegre

Beim ersten Ausflug nach 13 Minuten war er noch zu spät gekommen, drängte Slimani aber geistesgegenwärtig ab und blockte den Schuss zur Ecke. Danach klappten seine Berechnungen besser. Algerien versuchte es mit weiten Flanken über die deutsche Abwehr hinweg auf die schnellen Offensivkräfte Slimani und Sofiane Feghouli, doch als diese sich schon freuten, allein Richtung Tor rennen zu können, stand der Mann im blauen Trikot da und klaute ihnen die Kugel.

Was von außen wie ständige Rettungsaktionen in allerhöchster Not aussah, erklärten die Beteiligten später als geplantes Vorgehen. Neuer selbst ist ohnehin nicht der Typ dafür, sich selbst auf einen Thron zu setzen. "Das ist für mich kein Fehler im System, das ist eine Vertrauensgeschichte. Das sind Automatismen, die zwischen mir und der Abwehr greifen", sagte er mit einem Gesichtsausdruck, als würde er darüber sprechen, dass der Ball rund sei und das Spiel 90 Minuten dauere. Völlig banal das Ganze. Philipp Lahm kennt seinen "Manu" vom FC Bayern, deshalb zuckte auch er mit den Schultern und sagte: "Durch seine Spielweise ist er der beste Torwart der Welt."

Andere reagierten etwas euphorischer. Ko-Trainer Hansi Flick zum Beispiel: "Ich hab immer die Bälle gesehen, und hab gedacht: Wow, jetzt wird's gefährlich. Aber dann war Manu da gestanden. Das war eine gute Rückversicherung, er hat das sensationell gelöst." Oder Köpke: "Manu hat das phantastisch gemacht. Er war weniger im Tor gefragt, sondern durch antizipieren, mitspielen. Er findet da immer mehr Spaß dran. Draußen hat man trotzdem die Ruhe, man wird nicht nervös, weil man immer das Gefühl hat, er weiß was er tut."

Per Mertesacker, natürlich, sprach auch ein Lob aus. Für den Innenverteidiger war die Spielweise der Algerier das reine Gift, weil er im Laufduell gegen Slimani, Feghouli oder Soudani chancenlos hinterherstiefelte. "Es war wichtig, dass er das Auge hat, brenzlige Situationen zu sehen und abzulaufen. Dafür ist er weltberühmt. Deswegen brauchen wir ihn auch." Vor allem er, Mertesacker, und seine Abwehrkollegen brauchten ihn.

Neuer bolzte die Bälle dabei selten auf die Tribüne, sondern zielte zumeist auf einen Mitspieler. Einmal wuchtete er den Ball mit dem schwachen linken Fuß über 50 Meter in Richtung Thomas Müller. So weit hat Linksverteidiger Benedikt Höwedes in seinem Leben noch nicht mit links geschossen. Kurz nach der Pause hätte er fast mal wieder eine Torvorlage gegeben. Neuer fing erst eine Ecke ab, um sofort einen weiten Abschlag (diesmal mit rechts) über 70 Meter in den Lauf von André Schürrle zu platzieren. Viel hätte nicht gefehlt, und Schürrle wäre durchgekommen.

Stimmen zum DFB-Sieg
:"Ich lege mich jetzt drei Tage in die Eistonne"

Per Mertesacker reagiert gereizt auf die Fragen des Reporters und hat keine Lust auf eine Spielanalyse, Bundestrainer Joachim Löw preist die Willenskraft seiner Mannschaft und Manuel Neuer dämpft die Aufregung um seine Ausflüge.

Die Reaktionen im Überblick

Köpke folgerte daraus, sein Torwart sei als Feldspieler mindestens für die dritte Liga geeignet. "Mike Büskens hat das auch mal gesagt", erinnerte sich Neuer. Er spiele in seiner Freizeit immer gerne auf dem Feld, wisse aber nicht, in welcher Liga er sich einordnen solle. Selbst die Position sei unklar, er spiele nämlich überall. Und Elfmeter kann er auch verwandeln, wie er im Champions-League-Finale damals gegen Chelsea bewies.

Deutschland hatte in seiner Fußball-Historie fast immer großartige Torhüter. Stünde in Brasilien Roman Weidenfeller oder Ron-Robert Zieler oder Marc-André ter Stegen oder Bernd Leno im Tor, die Welt würde das Land immer noch beneiden. Viel hatte ja nicht gefehlt, und Manuel Neuer hätte die WM verpasst, nachdem er im Pokalfinale Anfang Mai heftig auf die Schulter gefallen war. Nach einer Rettungsaktion an der Seitenauslinie, versteht sich. Die Kapselverletzung heilte aber rechtzeitig aus. So bestaunt die Welt nun eine deutsche Nummer eins, die das Torwart-Spiel längst revolutioniert hat.

Dass ein früherer Held der deutschen Torwartgeschichte eine solche Vorstellung gleich nach Abpfiff im Fernsehen kommentiert, ist da vielleicht nicht die glücklichste Konstellation. Die Fußballwelt staunte ja auch mal über Oliver Kahn. Doch außerhalb des Strafraums fühlte er sich so wohl wie ein Brasilianer in der Fankurve Argentiniens. Als ZDF-Experte kritisierte er prompt Neuers Spielweise: "Was Manuel macht, ist Harakiri. Denn er kann auch mal eine Zehntelsekunde zu spät kommen." Wenn ein Torwart zu spät kommt, den Gegner statt den Ball trifft, muss er meist mit Rot vom Platz.

"Ich will es nicht verschreien, aber ich hab bis jetzt noch keine rote Karte erhalten. Ich achte schon darauf, dass ich nicht vom Platz fliege", kommentierte Neuer. Das Trainerteam stützt ihn dabei: "Klar, es ist immer ein Risiko dabei", sagte Köpke, "aber wir können nicht immer jubeln, wenn er es richtig macht. Und wenn er einmal nicht an den Ball kommt, dann alles verteufeln. Wir stehen zu dieser Spielweise, und die ist für uns auch wichtig."

Die Zuschauer wählten über das Internet übrigens einen Torwart zum Mann des Spiels. Der Algerier Raïs M'Bolhi erhielt den Pokal nach dem Abpfiff in einem Nebenraum des Stadions Beira-Rio. "Er hat schon gut gehalten, das muss man sagen", urteilte Köpke und schmunzelte. Es war wohl der Abend der Torhüter.

© Süddeutsche.de/hum - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: