Er habe schon "Einzelgespräche mit den Spielern geführt, die abreisen müssen", hat Manuel Neuer am Montag bei der Pressekonferenz dann noch verraten. Das ist einerseits ungemein lieb von ihm, andererseits aber auch sehr bezeichnend. Sogenannte Einzelgespräche dürfen im Fußball nur von Menschen vorgenommen werden, die mit der vorschriftsmäßigen Menge an Prokura ausgestattet sind, von Vorständen, Managern, Trainern. Und von Manuel Neuer, selbstverständlich.
Zwar ist das Wort "Führungsspieler" von ebenso erhabener Scheußlichkeit wie das "Einzelgespräch", aber ohne diese beiden Begriffe kann in Deutschland auf gar keinen Fall Fußball gespielt werden. Auch Führungsspieler führen Einzelgespräche, auch sie sind ausreichend mandatiert für diesen Auftrag. Und so war dieser kleine Satz, den Manuel Neuer unter die Leute brachte, in Wahrheit ein großer Satz.
Joachim Löw verzichtet in Russland überraschend auf Leroy Sané, seinen schnellsten Sprinter und mutigsten Dribbler. Indirekte Kritik an ihm hatte es in der Vergangenheit durchaus gegeben.
Neuers Satz von den Einzelgesprächen fasst in Neuers eigenen Worten das zusammen, was viele Mitspieler zuletzt mit unterschiedlichen Worten immer wieder gesagt haben: dass Neuer der Chef ist, dass er eine Ausstrahlung und eine Aura besitzt, dass man sich mit ihm im Tor wohler fühlt als ohne ihn im Tor; und dass all das natürlich nicht gegen Marc-André ter Stegen, seinen Stellvertreter, verwendet werden soll.
Neuer, 32, war der Überraschungsgast bei dieser Nominierungs-Veranstaltung, es käme nachher noch "ein Spieler", sagte Pressesprecher Jens Grittner geheimnisvoll. Tatsächlich hatte man bis zum Österreich-Länderspiel am vorigen Samstag ja kaum mehr gewusst, ob es diesen Neuer wirklich gibt, man hatte von ihm und seinem Mittelfuß raunen hören, und manchmal sah man Trainingsbilder, die so verwackelt waren wie die Bilder vom Ungeheuer von Loch Ness (okay, vielleicht hat man sich das Verwackeln auch nur eingebildet).
Es wirkt, als sei er nur mal eben kurz ums Eck gewesen
Nun saß Manuel Neuer da also im Pressezelt in Eppan, absolut scharf und in voller Lebensgröße, und er sagte Sachen wie: "Ich habe den Glauben nie verloren." Oder: "Ich bin fest davon überzeugt, dass ich den Belastungen bei einem Turnier standhalte." Am Ende traute er sich sogar an ein Witzchen: Er stehe sehr gut da, sagte Neuer, er habe ja gerade erfolgreich "eine englische Woche" hinter sich gebracht.
Er meinte damit das Länderspiel in Österreich sowie die zwei internen Testkicks in Eppan gegen die hauseigene U 20.
War was? Am Ende der Pressekonferenz wirkte es tatsächlich so, als sei Manuel Neuer nur mal eben kurz ums Eck gewesen, ein paar Panini-Bildchen kaufen vielleicht. Acht Monate Spielpause, soundsoviel verschobene Comebacks und Geraune um seine Karriere? Er werde "unvorbelastet" ins erste Gruppenspiel gegen Mexiko (17. Juni) gehen, versicherte Neuer, "das Risiko ist wie bei jedem anderen Spieler auch".
Aber natürlich weiß Neuer, dass es eine Punktlandung war. Eine klitzekleine Reaktion des linken Mittelfußes, eine klitzekleine Verzögerung im Trainingsablauf in Südtirol - und die WM hätte ohne den mutmaßlich weltbesten Torwart stattgefunden. Am Ende haben aber nicht nur die belastbaren medizinischen Parameter für Neuer gesprochen, sondern auch Neuer selbst.
Er habe wieder ein gutes Gefühl, das sagte er immer wieder, und das nicht ohne Grund: Auf diesem Spitzenniveau ist Torwartspiel auch Gefühlssache. Bei den Torhütern der Vergangenheit reichte es, wenn sie nach Verletzungspausen wieder mit der gewohnten Athletik und den gewohnten Reflexen bewaffnet waren; die heutigen Torhüter - erst recht so offensive wie Neuer - brauchen dagegen ein Gespür für Raum und Zeit. Sie müssen abschätzen, wann sie im Tor bleiben oder wann sie sich trauen, in die offene Prärie hinaus zu galoppieren. Und sie müssen ihre Füße und Mittelfüße fast so benutzen können wie ein Feldspieler - für all das braucht ein Torhüter Spielpraxis, und das mehr als früher.
Elf Einsätze von Trapp in der Rückrunde
Neuer ist allerdings berühmt dafür, dass er sich das Spiel auch nach Pausen schnell wieder untertan machen kann; ob allerdings auch nach so langen Pausen, das weiß mangels Erfahrungswerten keiner.
Umso kurioser, dass Joachim Löw sich noch einen zweiten Torwart mit wenig Praxis im Kader leistet. Unumstritten und im Grunde überqualifiziert ist Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona als Nummer zwei, aber als Nummer drei vertraut Löw dem Pariser Ersatzmann Kevin Trapp, während Leverkusens Stammkeeper Bernd Leno die Heimreise antritt. Torwarttrainer Andreas Köpke gilt als Anhänger von Trapps Spielweise, und da es in Frankreich praktischerweise zwei Pokalwettbewerbe gibt, hat es Trapp in der Rückrunde auf elf Einsätze gebracht - gerade noch ausreichend, um vom DFB wohlwollend als "Spielpraxis" hochgerechnet zu werden.
Aber dass sie zwei Torhüter mit wenig Praxis haben, werden sie beim DFB vermutlich eh nicht so sehen. Denn Manuel Neuer ist ja kein Torhüter. Manuel Neuer ist Manuel Neuer.
