Deutschland besiegt Österreich 6:2:Jogo bonito nach Löw-Art

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Nach dem 6:2 hat sich die deutsche Nationalelf für die EM 2012 qualifiziert. Der rauschhafte Auftritt veranlasste einige Beteiligte, jede Zurückhaltung aufzugeben und offen den EM-Titel zu fordern. Weil die Mannschaft das deutsche Fußballvolk derzeit von einem Glücksmoment in den nächsten jagt.

Thomas Hummel, Gelsenkirchen

Jens Lehmann hat sich vermutlich das Länderspiel angeschaut. Zu Hause am Fernseher, vielleicht mit einem Bier in der Hand. Oliver Kahn hat sich die Partie ebenfalls angesehen, vermutlich ohne Bier - schließlich agierte er als Experte für den Fernsehsender ZDF. Beide waren jedoch nicht in der Interviewzone im Keller des Gelsenkirchener Stadions. Das war auch gut so, denn Miroslav Klose weiß ja, wie es ist, wenn einem Oliver Kahn den Finger in die Nase steckt.

Baumeister einer rauschhaften Elf: Bundestrainer Joachim Löw. (Foto: dapd)

Das war im Jahr 2004, als sich der Stürmer im Bremer Trikot erlaubte, den jähzornigen Bayern-Torwart anzugehen. Die Erinnerung an diese Episode weckt Spekulationen, was Kahn diesmal gemacht hätte, nachdem Klose diese unerhörten Worte ausgesprochen hat. Auf die Frage, ob der 33-jährige Angreifer in seinen 111 Länderspielen schon einmal in einer besseren Nationalmannschaft gespielt hat, antwortete er: Bislang habe immer etwas gefehlt, "mal ein gescheiter Stürmer, mal ein gescheites Mittelfeld, mal ein gescheiter Torwart".

Manch ein Zuhörer zuckte zusammen. Wie bitte? Es fehlte ein gescheiter Torwart? Wann?

In der Ära Miroslav Klose gab es lange Jahre genau zwei Torhüter in der DFB-Elf: Oliver Kahn und Jens Lehmann. Bis zu diesem 2. September gegen 23.30 Uhr hat noch nie jemand gewagt zu sagen, dem Nationalteam fehlte in jenen Jahren "ein gescheiter Torwart". Das hätte Nasenstüber und Fußtritte zu Folge gehabt, wenn nicht Schlimmeres. Doch die impulsiven und stolzen Kahn und Lehmann können ganz beruhigt sein: Klose sagte das eher so dahin, unüberlegt, ohne einen Kahn oder Lehmann vor Augen. Seine wichtigste Botschaft lautete eigentlich: "Heute haben wir alles im Überfluss."

Die deutsche Nationalmannschaft hat alles im Überfluss. Torhüter, Abwehrspieler, Mittelfeldleute, Angreifer. Wann hat das zuletzt ein aktiver Spieler sagen können? Das rauschhafte 6:2 gegen Österreich veranlasste einige Beteiligte, jede Zurückhaltung aufzugeben und sich Schwärmereien hinzugeben: über eine Mannschaft, die das deutsche Fußballvolk von einem Glückmoment in den nächsten jagt.

Mesut Özil zum Beispiel: "Wir haben als Mannschaft heute eine super Leistung gebracht. Unser Ziel muss es nun sein, den EM-Titel zu holen." Oder Lukas Podolski: "Bei der EM gehören wir sicher zum Favoritenkreis, wir wollen natürlich den Titel." Nach acht Siegen in acht Spielen hat sich Deutschland für die Europameisterschaft im kommenden Jahr in Polen und der Ukraine qualifiziert, was auch den Bundestrainer nicht kalt ließ. "Das ist schon eine Klasseleistung, absolut bemerkenswert", lobte er.

Gegen die bedauernswerten Österreicher verdeutlichte die deutsche Elf, was sich schon beim 3:2 gegen Brasilien andeutete: Sie verfügt in der Offensive über eine Fülle großartiger Athleten, technisch perfekt ausgebildet, schnell, mit Spielfreude und -intelligenz ausgestattet bis zum Haaransatz. Was Thomas Müller, Mesut Özil, Lukas Podolski, Toni Kroos und am Ende Andre Schürrle und Mario Götze boten, hätte man vor einigen Jahren dem deutschen Kraft- und Rumpelfußball niemals zugetraut. Es fällt eher in die Kategorie des brasilianischen jogo bonito, des schönen Spiels. Was die Brasilianer allerdings selbst seit langer Zeit nicht mehr zustande bringen.

DFB-Elf in der Einzelkritik
:Auf einer Höhe mit Uwe Seeler

Außer den Verteidigern haben die meisten deutschen Spieler gegen Österreich ihren Spaß - Miroslav Klose macht sich allerdings des Torraubes schuldig, Mesut Özil begeht einen Anfängerfehler und Bastian Schweinsteiger betätigt sich als Zwischen-Zwischenspieler zwischen dem Zwischenspieler. Die deutsche Nationalmannschaft in der Einzelkritik.

Boris Herrmann und Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Das Tempo und die Genauigkeit der deutschen Angriffe ließ die immerhin mit sechs Bundesliga-Profis angetretenen Österreicher aussehen wie eine Rentnergruppe aus dem beschaulichen Burgenland inmitten des schlimmsten Münchner Berufsverkehrs: überfordert, wehrlos, hilflos. Beim 1:0 (8.) jubelte Miroslav Klose, obwohl er einen Schuss von Özil im besten Fall mit dem großen Zeh zart berührte. Der Schiedsrichter fiel auf den Trick herein und schrieb ihm seinen 62. DFB-Treffer gut, nur noch sechs fehlen zu Gerd Müllers Rekord.

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Boris Herrmann und Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Beim 2:0 (23.) lief Özil im Slalom durch die Gäste aus dem Wintersportland, das 3:0 (28.) donnerte Podolski dem schwachen Torwart Christian Gratzei durch die Beine. Beim 4:1 (47.) profitierte wieder Özil von der zaghaften Gegenwehr des Schalkers Christian Fuchs, in der Endphase legte zweimal Thomas Müller zauberhaft auf Schürrle (5:2, 84.) und Götze (6:2, 89.).

Nicht einmal Joachim Löw konnte seinen Stolz verhehlen, der Baumeister dieser deutschen Freudenmannschaft zu sein. "Wir haben Österreich in jeder Beziehung beherrscht und absolut dominiert." Seine Elf habe "unglaublich Druck gemacht" und viele Chancen rausgespielt. Wie schon beim 3:2 gegen Brasilien sei das Passspiel herausragend, das Spiel ohne Ball in hohem Tempo überragend gewesen. Habe man früher gegen so genannte kleinere Gegner, die sehr defensiv spielen, Probleme gehabt, sorge nun "viel Bewegung, hohe Intensität und Fleiß" dafür, dass sich Zweifel schnell erledigen.

Die zwei Gegentore? Kleine verzeihliche Unfälle. Nicht einmal Philipp Lahm, der gerne zu mehr Pflichtbewusstsein in der Defensive mahnt, ließ sich die Laune verderben: "Als Verteidiger ärgert man sich natürlich über Gegentreffer, aber heute überwiegt die Freude. Unsere Mannschaft hat gezeigt, zu was sie fähig ist." Auch Löw wollte sich sein Kunstwerk nicht beflecken lassen: "Wenn man so offensiv spielt wie wir, dann bekommt man auch mal ein Tor. Heute haben wir uns in der Abwehr zweimal nicht perfekt verhalten. Es ist unsere Philosophie, permanent nach vorne zu gehen." Besonders freute sich Löw auch über seine bestens besetzte Ersatzbank: "Das muss so sein, wenn man etwas gewinnen und Weltspitze sein will."

Irgendwann war an diesem Abend nichts mehr zu groß, kein Superlativ zu gewagt. Jemand fragte den Bundestrainer, ob Deutschland denn aktuell die beste Mannschaft in Europa sei. Da wurde es Joachim Löw doch ein wenig zu viel. Nein, so könne man das nicht sagen, erklärte er. Sicher, das sei eine "sehr, sehr gute Mannschaft, aber nicht unbedingt die Nummer eins". Schließlich seien da noch die Spanier, auch Niederländer, Portugiesen, Franzosen hätten gute Teams.

Wer ist da schon Österreich? "Das ist nicht der Maßstab, das hatte fast Freundschaftsspielcharakter", erklärte auch Oliver Kahn im ZDF. Nächstes Jahr bei der EM, ja, da kommt es drauf an! Bis dahin aber freut sich Fußball-Deutschland schon mal über seine Mannschaft.

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