Deutsche Nationalmannschaft:Das DFB-Team kehrt zur Demut zurück

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Wohin geht die Reise für Bundestrainer Joachim Löw und den deutschen Fußball? (Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Der erste Praxistest für Joachim Löws WM-Analyse bringt ein 0:0 gegen Frankreich - und jede Menge Erkenntnisse.
  • Löw und seine Spieler sind fortan die Herausforderer - und sie haben diese Rolle angenommen.
  • Die Rückkehr zur Ochsenabwehr bleibt jedoch wohl nur eine Variante von vielen.

Von Claudio Catuogno, München

Joachim Löw hatte sich also seine Gedanken gemacht, in Porto Cervo, Sardinien, beim Blick auf die liebliche Costa Smeralda, und in Freiburg, Breisgau, wo man im Café Auszeit einen vorzüglichen Cappuccino bekommt. Wo sonst noch, das weiß man nicht so genau, und auch zu der Frage, mit welchen Spielern Löw sich getroffen und mit welchen er telefoniert hat, um seine Erkenntnisse zur gescheiterten WM-Mission in Russland zu vertiefen, gibt es unterschiedliche Auskünfte. Manche Gedanken macht sich Joachim Löw immer noch am liebsten allein.

Aber nun, in der schwarz-rot-gold eingefärbten Münchner Arena, musste der Bundestrainer seine neuen Gedanken erstmals vor Publikum auf den Platz bringen: das erste Pflichtspiel für seine Nationalelf im neuen Turnierformat Nations League, kein Testspiel, aber doch ein Test. Der Praxistest für Löws WM-Analyse. Und wenn man es kurz und bündig zusammenfasst, dann ist am Donnerstag Folgendes zu sehen gewesen: Löw stellte den Rechtsverteidiger Joshua Kimmich ins defensive Mittelfeld, den Innenverteidiger Matthias Ginter schob er raus auf die rechte Seite und den Innenverteidiger Antonio Rüdiger auf die linke. Der Stürmer Timo Werner spielte auf dem Flügel, dafür spielte Marco Reus, der doch am liebsten auf dem Flügel spielt, als Stürmer, wobei er weniger Ballkontakte hatte als der Torwart Manuel Neuer. Und hinterher freuten sich die Deutschen über ein Spiel, in dem sie kein Tor erzielt hatten: ein 0:0 gegen Frankreich.

Nicht mehr "mit acht Mann angreifen" wie bei der WM? Thomas Müller gefällt das

Aha, mag sich jetzt mancher, der die Nationalelf eher flüchtig beobachtet, gedacht haben: Und das soll jetzt dieser Neuanfang gewesen sein, von dem alle reden?

Mit Neuanfängen ist es immer so eine Sache, das erste Problem ist zum Beispiel, dass sie überhaupt nötig sind. Dieser hier, der Löw'sche Neuanfang, ist vor allem deshalb nötig geworden, weil sich Löw vor und während der WM ein paar Gedanken, die er sich hätte machen sollen, nicht gemacht hat. Das bekannte Löw ausdrücklich selbst - und scheute auch nicht davor zurück, sich der "Arroganz" und "Selbstgefälligkeit" zu bezichtigen. Aber offenbar wohnt auch dem erzwungenen Anfang ein Zauber inne: Der Verteidiger Jérôme Boateng ging am Donnerstag sogar so weit, das Vorrundenaus im Nachhinein zu einer prima Erfahrung umzudeuten: "Vielleicht war es auch gut, mal so eine Enttäuschung zu erleben, damit man neu motiviert an die Sachen rangehen kann", sagte er.

Apropos: Beim Gegner Frankreich wissen sie sehr genau, dass sie im Juli in Moskau wohl nicht Weltmeister geworden wären, wenn sie vor zwei Jahren bei der EM zu Hause nicht eine erschütternde Finalniederlage gezwungen hätte, vieles noch mal zu hinterfragen. Weil sie dann wohl mit der Arroganz und Selbstgefälligkeit des amtierenden Europameisters nach Russland gereist wären, anstatt noch mal alles auf den Kopf zu stellen.

Wie viel hat Joachim Löw auf den Kopf gestellt bei diesem, seinem Neuanfang? Was wird er erst in den kommenden Spielen verändern, wenn es in der Nations League in Paris erneut gegen Frankreich sowie zweimal gegen die Niederlande geht? Was in den Testspielen, etwa am Sonntag in Sinsheim gegen Peru? Und was wiederum war am Donnerstag zwar neu - aber gar nicht wirklich Teil seines Zukunftsplans, sondern bloß der Tatsache geschuldet, dass ausgerechnet in der ersten Partie nach der WM der neue Weltmeister vorspielte? Man musste das ein bisschen sortieren nach dem 0:0 gegen Frankreich.

Joshua Kimmich als "Sechser" zum Beispiel, das sei "bei der WM noch kein Thema gewesen", erklärte Löw - obwohl die fehlende Stabilität auf dieser Position auch in Russland schon eklatant war. Erst nach der Rückkehr, als er "im taktischen Bereich nach Maßnahmen" gesucht habe, "die Veränderungen mit sich bringen", habe er sich für diese Variante erwärmt. Und für die Zukunft? Da sei Kimmich im Mittelfeld "sicherlich eine gute Lösung".

Das mit den vier Innenverteidigern in der Abwehrreihe hingegen wäre Löw womöglich auch bei der WM noch eingefallen - wenn sie nicht so schnell vorbei gewesen wäre. Löw war es schließlich selbst, der 2014 in Brasilien die sog. Ochsenabwehr erfand, bestehend aus den Innenverteidigern Boateng, Mertesacker, Hummels und Höwedes. Damals, als Löw strategische Entscheidungen noch mit Respekt vor der "Urkraft" traf, die er bei der Südamerika-WM erwartete. Damals, als er noch nicht der Weltmeistertrainer war. Insofern war nun die Abwehrreihe Ginter, Boateng, Hummels, Rüdiger nicht nur eine Rückbesinnung auf die Stabilitätsmechanismen von einst, sondern auch eine Rückkehr zur Demut der Vor-Weltmeister-Zeit.

İlkay Gündoğan
:"Ich war nervös"

İlkay Gündoğan hört bei seiner Einwechslung gegen Frankreich Pfiffe und Applaus. Später gibt er einen Einblick in seine Gefühlswelt nach den Erdoğan-Fotos.

Aus dem Stadion von Martin Schneider

Tatsächlich wiesen Rüdiger und Ginter auf ihren Seiten dann jeweils beachtliche Zweikampfbilanzen auf. Trotzdem dürfte sich der Bundestrainer schon gegen Peru wieder von der Variante Ochsen 2.0 verabschieden - sie zählte zu den von Löw spezifisch auf den Gegner Frankreich zugeschnittenen Maßnahmen. Zugeschnitten auf Spieler wie den Angreifer Kylian Mbappé, "der ja über rechts kommt", aber auch auf die offensiven Außenverteidiger Benjamin Pavard und Lucas Hernandez, "Leute, die enorme Kraft nach vorne haben". Deshalb "war das heute sicherlich genau das Richtige", sagte Löw.

Im eigenen Spiel nach vorne wählten Ginter und Rüdiger hingegen oft den Sicherheitspass. Aber um das eigene Spiel nach vorne ging es an diesem Abend erst in zweiter Linie. "Wir waren gut organisiert, haben kompakt gestanden, wir sind in keine Konter gelaufen, alle haben nach hinten gearbeitet ", sagte Löw, "das Wichtigste war die defensive Stabilität." Wann hat man den Bundestrainer und seine Spieler je so intensiv davon schwärmen hören, wie schön es ist, kein Tor zu kassieren?

Ein Auftritt, der auch ein Versöhnungsangebot war

Mal kurz reinhören beim Angreifer Thomas Müller: "Wir haben heute das Tor mit Mann und Maus verteidigt"; "wir waren vor allem auf Kontervermeidung eingestellt"; "wir wollten nicht mit acht Mann angreifen und zwei hinten lassen" (wie bei der WM; Anm. d. Red.); "wir Stürmer waren die ersten Verteidiger, aber das macht ja auch Spaß, Zweikämpfe zu führen, und wenn du als Mannschaft verteidigst, dann gewinnst du ja auch Zweikämpfe".

Der deutsche Fußball hat eine aufregende Reise hinter sich, einmal in den Himmel und zurück, er hat diese Reise mit einer Bruchlandung beendet, und jetzt ist er wieder in der Rolle des Herausforderers. Aber diese Rolle, das ist die Botschaft des 0:0 von München, hat er offenbar mit jener Demut angenommen, die es für weitere Höhenflüge braucht.

So gesehen war der Auftritt auch ein Versöhnungsangebot, und das Münchner Publikum hat ein feines Gespür dafür bewiesen, dass diese Mannschaft gerade ein bisschen Zuneigung nötig hat. In vielerlei Hinsicht. Als etwa Ilkay Gündogan für Leon Goretzka eingewechselt wurde, hielt es nur noch eine Minderheit für eine gute Idee, ihn auszupfeifen, vor allem klatschten die Leute aufmunternd, und Gündogan applaudierte dankbar zurück. Damit schien auch das leidige Kapitel "Erdoğan-Fotos" fürs Erste abgeschlossen zu sein. Der Neuanfang hingegen hat gerade erst begonnen.

© SZ vom 08.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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