Eine 180-Grad-Wendung war unausweichlich. Und mit der Zahl 180, da kennt sich der Dartsprofi Luke Humphries aus wie kaum ein Zweiter. Er lag im Spiel gegen seinen deutschen Kontrahenten Ricardo Pietreczko 1:3 hinten, 2:2 stand es in Satz Nummer fünf. Humphries wusste: Er musste nun treffen, sonst würde er dieses Spiel verlieren. Die Dreier-Kombi 180 musste her - und auch sonst im Prinzip alles, worauf er zielt.
Es war eine verzwickte Lage für den derzeit wohl besten Dartsspieler der Welt. Also nicht nur die sportliche Situation, sondern auch die Umgebung: Es war ja eigentlich ein Heimspiel für Humphries gegen den Nürnberger. Doch die Fans im Londoner Alexandra Palace waren nicht wirklich auf der Seite des 28 Jahre alten Engländers, im Gegenteil. Im "Ally Pally" musste es sich für Humphries am Donnerstagabend wie ein Auswärtsspiel angefühlt haben, denn das Auditorium pfiff und buhte ihn nahezu während des gesamten Spiels aus. So kam es zum größtmöglichen Druckmoment für Humphries. Und just nun, da es unausweichlich wurde, zeigte er, warum er bei dieser Weltmeisterschaft auch im Falle eines Auswärtsspiels der Favorit ist.
Darts-Profi Luke Littler:Limonade gegen den Bierdurst
Bei der Darts-WM im legendären Ally Pally feiert das Publikum sich selbst und nebenbei auch einen 16-Jährigen mit besonderer Begabung. Luke Littler aus Liverpool erinnert an den früheren Fußballer Wayne Rooney - aus einem einfachen Grund.
4:3 gewann Humphries am Ende gegen den 29 Jahre alten Nürnberger Pietreczko und ließ erkennen, dass er seinen Beinamen "Cool Hand Luke" spätestens seit Donnerstagabend verdient hat. Nachdem er dieses sportliche Drama doch noch für sich entschieden hatte, war es mit der Coolness des Briten allerdings hinüber. Unmittelbar nach dem Match sprang er mit geballter Faust provokant in Richtung einer Zuschauer-Ecke. "Da waren ungefähr drei Leute, die bei jedem einzelnen Wurf gepfiffen und gebuht haben, das ist einfach lächerlich. Am Ende haben sie die Reaktion bekommen, die sie verdient haben", sagte er nach seinem Achtelfinaleinzug: "Ich hatte 99 Prozent des Publikums gegen mich. Das war echt das härteste Spiel, was ich je gespielt habe."
"Ich habe mich entschuldigt für die ganzen Pfiffe im Publikum."
Sein unterlegener Gegner Ricardo Pietreczko indes reagierte im Moment der Niederlage mit großer Geste und seinerseits klaren Worten. Er umarmte Humphries für fast eine Minute - und gab später bei Sport1 Einblicke in seine Gefühlswelt. "Ich habe mich entschuldigt für die ganzen Pfiffe im Publikum", sagte "Pikachu", wie ihn seine Anhänger nennen: "Das ist einfach nicht in Ordnung, egal, für wen man ist."
Sein Kollege, der "German Giant" Gabriel Clemens, war vor einem Jahr als erster Deutscher bis ins WM-Halbfinale vorgerückt. Nun hatten sich erstmals bei einer Darts-WM gleich fünf Deutsche für das Feld der 96 Teilnehmer qualifiziert, ehe vier von ihnen bis in Runde drei vorrückten, auch das ist im deutschen Darts ein neuer, nun, Spitzenwert. Deutschland hatte damit mit den Niederlanden nach England (zwölf) die zweitmeisten Vertreter im Sechzehntelfinale. In den K.-o.-Spielen der besten 32 dieser WM zeigte sich allerdings, dass die Briten den Deutschen im Darts noch eine Pfeillänge voraus sind. German Giants? Dann doch eher Scheinriesen.
Sowohl der Brandenburger Martin Schindler, der sich nach einem Thriller Scott Williams 3:4 geschlagen geben musste, als auch der Saarwellinger Clemens (1:4 gegen Dave Chisnall) und Florian Hempel aus Köln (0:4 gegen Stephen Bunting) hatten im Turnierverlauf bisweilen bärenstarke Auftritte gezeigt. Pietreczko wird künftig wie Clemens und Schindler unter den Top 40 der Weltrangliste stehen - ebenfalls ein nationaler Bestwert. Zur Weltspitze, in die Clemens vor einem Jahr vorgestoßen war, fehlt aber offensichtlich noch etwas - und sei es wie im Fall von Pietreczko und Schindler nur ein einziges Leg im entscheidenden Moment.
An den Zuschauern, so viel kann man sagen, dürfte es nicht gelegen haben, dass alle vier deutschen Teilnehmer an Silvester freihaben. Darts boomt in Deutschland, das zeigt zum Beispiel die TV-Quote. 1,78 Millionen Zuschauer verfolgten das Spiel am Donnerstagabend in der Spitze bei Sport1. Hinzu kommt die Quote im "Ally Pally", ein Viertel der insgesamt 80 000 verkauften WM-Tickets ging nach Deutschland. Von Luke Humphries gab es dafür auf der Bühne keinen Daumen nach oben - sondern eine 180 und eine geballte Faust in your face. Nehmt das, ihr deutschen Riesen.