Am Samstagabend im "Aktuellen Sportstudio" nahm Toni Kroos Stellung zum Fall von Kai Havertz und dessen aufsehenerregendem Wechsel zum Premier-League-Klub FC Chelsea, und der welterfahrene Nationalspieler sprach genau das aus, was zu dieser Sache zu sagen ist: "Kai hat eine Riesenqualität", sagte er.
Die enorme Reichweite der fußballerischen Fähigkeiten von Kai Havertz ist nach knapp vier Jahren Zugehörigkeit zum Bundesligabetrieb, 118 Punkt- und 19 Europacupspielen sowie sieben Länderspieleinsätzen empirisch nachgewiesen, Havertz' Spiel ist ein Fest für die Statistiker: In der vorigen Saison hat bloß Thomas Müller mehr Chancen für die Mitspieler kreiert als der 21 Jahre alte Leverkusener, der an 30 Prozent der Bayer-Tore beteiligt war und während der vergangenen zwei Jahre an Treffern lediglich von den ständigen Torschützen vom Dienst, Robert Lewandowski und Timo Werner, übertroffen wurde.
Auch das Urteil der Fußballweisen, die für ihre Erkenntnis keine kleinkarierten Statistiken benötigen, bestätigt das Bild. Der Bayer-Sportchef und Premium-Experte Rudi Völler versichert, dieser von Natur aus eisgekühlte Nachwuchsstar sei "schon jetzt Weltklasse", und so wie Völler in früheren Jahren nicht damit aufhören wollte, Michael Ballack als "torgefährlichsten Mittelfeldspieler Europas" zu rühmen, so wiederholt er jetzt auch gern seine mutige Prognose zur Zukunft von Kai Havertz: Dieser werde garantiert "der beste deutsche Nationalspieler der nächsten zehn Jahre" werden.
Chelsea investiert eine ungewöhnlich hohe Summe in Corona-Zeiten
Chelsea scheint das auch für möglich zu halten, jedenfalls hat er mitten im späten Corona-Krisen-Sommer, in dem selbst ein reicher Klub wie Liverpool eher sparsam ist, eine ungewöhnlich hohe Summe investiert, um Havertz nach London überführen zu dürfen. Das Geschäft schlägt hier wie dort Rekorde: Nie hat Chelsea, der Verein des gewiss nicht unspendablen Multimilliardärs Roman Abramowitsch, so viel Geld für einen Spieler ausgegeben; und nie zuvor hat ein deutscher Fußballer so viel Geld gekostet.
Wie viel es wirklich ist, das ist offenbar Ansichtssache: Leverkusen stellte es so dar, dass die von Anfang an erhobenen Ansprüche befriedigt wurden, dass also die öffentlich benannte Zielmarke von 100 Millionen Euro erreicht werden konnten (wenngleich der Betrag offenbar nicht auf Anhieb ausbezahlt, sondern in Form von Bonusleistungen komplettiert wird). In der englischen Presse wiederum finden sich Berichte mit Bezug auf Quellen im Klubheim an der Stamford Bridge, die die Ablöse bei 70 oder gar - nahezu lachhaften - 62 Millionen Pfund beziffern, circa 70 bis 80 Millionen Euro.
Beide Seiten legen also Wert darauf, als erfolgreiche Verhandler dazustehen. Besonders gut da stehen auf jeden Fall die Agenten des Spielers, die nun für die vorausschauende Talent-Akquise belohnt werden (Havertz war gerade 16 Jahre alt, als die Berater-Agentur an seine Seite trat), sowie der Spieler selbst. Von zwanzig Millionen Euro Jahresverdienst ist in Medien die Rede, Kenner der Praktiken bei Chelsea und der englischen Verhältnisse rechnen mit 15 oder 16 Millionen - netto. Das Geld bestimmt im Fußball den Status, in England geschieht das unter Umständen in potenzierter Form. Damit umzugehen wird Havertz lernen müssen.
Toni Kroos hat am Wochenende nicht nur darauf hingewiesen, dass er die Begabungen seines Nationalelfkollegen hoch einschätzt und dass er es grundsätzlich für gut hält, ins Ausland zu wechseln ("das macht einen als Spieler und Persönlichkeit besser") - er hat auch gesagt, dass es Probleme geben könnte. In einer designierten Spitzen-Karriere könnten sich "immer auch Stolpersteine" auftun, erklärte Kroos der Bild: "Kai steht nun vor dem nächsten Schritt und vor einer neuen Situation. Auch darauf muss er sich erst mal einstellen, sich daran gewöhnen."
Kroos war 24 Jahre alt, als er zu Real Madrid wechselte. Er kam allerdings vom FC Bayern und hatte somit schon ein paar Härteproben hinter sich. Havertz kommt von Bayer 04 Leverkusen, er kennt den Leistungsdruck des Profisports, aber nicht den unbedingten Erfolgsdruck. Es gehört zu den Leverkusener Traditionen, aus Misserfolgen kein Drama zu machen. Bayer-Geschäftsführer Fernando Carro sprach daher ungewöhnlich ungemütliche Worte, als er neulich nach der dreifachen Enttäuschung in Liga, Pokal und Europacup ohne die üblichen Relativierungen festhielt, man habe alle Ziele verfehlt. "Anspruch und Realität liegen bei uns auseinander", sagte er. Neue Töne in Leverkusen.
Bayer hat jetzt zwar viel Geld, aber auch eine Mannschaft in unfertigem Zustand. Auch Kevin Volland ist ja verkauft worden, der nach Havertz zweitbeste Torschütze und Vorbereiter. Weitere Spieler wie Lucas Alario, Leon Baily oder Wendell könnten noch gehen, entsprechend viele neue Spieler müssten kommen, wie Trainer Peter Bosz bereits dringend verlangt hat. Offen ist, welche Summe die Bayer AG dafür freigibt. Der Konzern hat mit dem ihm zugehörigen Klub eine Vereinbarung: Die Gewinne bzw. Überschüsse eines Geschäftsjahres liefert der Verein bei der AG ab; wenn Verluste anfallen, gleicht die AG sie aus. Für einen Betrag, wie er jetzt das Konto füllt, gibt es jedoch keinen Erfahrungswert.
Havertz trifft in London zwei Landsleute und Mitspieler aus der Nationalmannschaft: Timo Werner und Antonio Rüdiger. Das wird ihm die Eingewöhnung etwas erleichtern. Doch der FC Chelsea ist ein straff geführter Betrieb, der mit der teuren Transferoffensive die klare Ansage macht, dass er nicht länger Liverpool und Manchester City den Titelkampf überlassen will. Mindestens 250 Millionen Euro hat Sportchefin Marina Granowskaja - die Statthalterin des Besitzers Abramowitsch - in diesem Sommer für ein halbes Dutzend an Spielern ausgegeben, das Geld stammt aus den Ersparnissen, die sich während einer zweijährigen, von der Fifa verhängten Einkaufssperre angesammelt hatten. Besonders Kai Havertz soll nun für die Amortisierung sorgen.