Bayern-Gegner Olympique Lyon:Plötzlich Partycrasher

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Memphis Depay (oben): Ausnahmespieler von Lyon (Foto: AFP)

Lyons Trainer Rudi Garcia konnte es in der Heimat bisher wenigen recht machen, nun steht der Klub am Ende einer chaotischen Saison im Halbfinale der Champions League. Gegen den FC Bayern laufen zwei außergewöhnliche Spieler auf.

Von Oliver Meiler

Wenn die Franzosen "Outsider" sagen, was nun aus aktuellem Anlass recht oft vorkommt, klingt das etwa so: "Utsaidöör" - mit lang gezogener Schlusssilbe. Olympique Lyon, gegründet im gar nicht so fernen Jahr 1950, ist ein klassischer Outsider in der auslaufenden Champions League. Gar nicht so sehr, weil es diesem Klub an Glanz und Geld gebrechen würde. Mit einem Jahresbudget von 310 Millionen Euro gehört Lyon nicht zu den Ärmsten, und wer sich noch an die Nullerjahre erinnern mag: Da gewann Olympique siebenmal in Serie den nationalen Titel, von 2002 bis 2008. Ein nationaler Rekord, Lyons Dekade.

Aber dass man es ausgerechnet am Ende einer sportlich desaströsen und chaotischen Saison, voller Umstürze und personeller Umbesetzungen, jetzt ins Halbfinale der europäischen Königsklasse schaffen würde, das hätte niemand für möglich gehalten - die Lyonnais selbst am wenigsten. Lyon wurde nur Siebter in der abgebrochenen französischen Ligue 1, das war ein Abklatsch der eigenen Ambitionen, nicht einmal für die Europa League hat es am Ende gereicht. Für den Endspurt der Champions League sah man sich selbst als kolossaler "Utsaidöör". Als Partycrasher.

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Nun aber ist Lyon zum zweiten Mal in seiner Geschichte mit dabei im finalen Quartett. Das erste, bisher einzige Mal ist zehn Jahre her, und ja, der Gegner war damals schon der FC Bayern. Keine sehr gute Erinnerung ist das für Lyon, es gab 2010 zwei Niederlagen, 0:1 in München und 0:3 daheim, mit drei Toren von Ivica Olic. Aber was zählen die Geister von gestern?

Und überhaupt: Outsider, das liegt in der Natur der Sache, verlieren ja nichts, wenn sie verlieren, ihr Verlieren ist programmiert. Frei vom Druck spielt es sich zuweilen leichter, vielleicht sogar besser. Auf dem Weg unter die letzten Vier warf Lyon zwei Favoriten raus: Zunächst Juventus Turin mit Cristiano Ronaldo (1:0 und 1:2), das sich einiges vorgenommen hatte in diesem Jahr. Und am Wochenende im Viertelfinale auch noch Manchester City von Trainer Pep Guardiola, der den reichen Geldgebern vom Golf endlich mal die wichtigste Trophäe bescheren sollte, die so herumsteht in der Requisitenkammer.

Natürlich gelang Lyon das 3:1 gegen Manchester ganz im Stil des Outsiders: Das Team stand tief, meist mit fünf Mann hinten drin, und wartete auf seine Chancen, die naturgemäß mit wachsender Nervosität des Favoriten zunahmen. Dann konterte Lyon mit einer Frische, die mitten im August nur eine Mannschaft in den Beinen haben kann, die nicht eine ganze Saison durchspielen musste. Gegen City wurde für Lyon ein Ballbesitz von 28 Prozent gemessen, das ist selbst für einen Underdog eine dürftige Quote, auf diesem Niveau des Wettbewerbs sowieso. Sie reichte aber aus für drei Tore. Das muss man nicht schön finden, aber es war effizient.

"Comme des bons", titelte die französische Sportzeitung L'Équipe danach: "Als wärt ihr wirklich gut." Guardiola lobte danach Rudi Garcia, den Trainer des Gegners, in allen Tönen. Dabei schwang mit: Wer mich schlägt, der muss ja gut sein.

Mit Garcia konnte es eigentlich gar nicht gut gehen

In Lyon müssen sie sich erst noch an diesen Gedanken gewöhnen. Garcia ist nämlich alles andere als beliebt, er konnte bisher wenig recht machen. Das liegt nicht so sehr an seiner Person, eher an einem Eintrag in seiner Vita. Der Franzose mit spanischen Wurzeln, den die Eltern Rudi taufen ließen, weil sie die deutsche Radlegende Rudi Altig so toll fanden, hatte sich einst als Trainer in Lille einen Namen gemacht.

Danach coachte Garcia AS Rom - und anschließend Olympique Marseille. Und genau das, diese letzte Station an der Mündung der Rhone, hätte ihn aus Sicht der Lyonnais, ein paar Hundert Kilometer flussaufwärts, im Grunde für immer für den Job disqualifizieren müssen. Denn OL vs. OM - keine Rivalität in Frankreich ist virulenter als dieses Derby zwischen Lyon und Marseille, es läuft das ganze Jahr über, mit ständigen Sticheleien.

Daher konnte es eigentlich gar nicht gut gehen, als Garcia im vergangenen Herbst die Mannschaft vom Brasilianer Sylvinho übernahm. Als dann auch noch Siege ausblieben, schien das Verhältnis irreparabel kompromittiert zu sein. Doch Garcia schaffte es offensichtlich, das Team in der langen Corona-Pause zusammenzuschweißen, ihm eine neue Spielidee zu vermitteln. Mit jedem Einzelnen soll er stundenlang gesprochen haben. Die Mannschaft war davor ein anarchischer Haufen gewesen, ohne Konstanz, ohne Zukunft. Alle großen Namen, so war weithin mal wieder klar, würden sich im Sommer einen neuen Arbeitgeber suchen. Und nun?

Da ist zum einen Houssem Aouar, die Nummer 8, ein wunderbar ballsicherer, offensiver Mittelfeldspieler. In Lyon nennen sie ihn "Petit Prince", er ist auch aus finanziellen Gründen die große Hoffnung des Vereins: 22, Franzose mit algerischen Wurzeln, geboren in Lyon, aufgewachsen in Lyon, geformt von Olympique. Aouar gilt als bestes Produkt der Nachwuchsarbeit des Vereins seit Karim Benzema (Real Madrid), Alexandre Lacazette (Arsenal), Nabil Fekir (Betis Sevilla) und Corentin Tolisso (Bayern). Benzema machte sich schon für Aouar stark, da war der noch ein Kind.

Manchester City schaut sich Aouar seit zwei Jahren an. Die französische Presse fand nach dem Spiel, Aouar habe beim 3:1 sein Anstellungsgespräch absolviert, mit vielen Argumenten in eigener Sache. An guten Tagen ist Aouar das Hirn im Zentrum von Lyon, Umschalter und Ballverteiler. Dummerweise hat er ab und zu schlechte Tage, da verschwindet er ganz. "Ich denke zu viel nach", sagte er neulich, "dabei sollte man das Gehirn manchmal auf Off stellen und einfach spielen und voll gehen."

Auch im Sturm von Lyon steht einer, der viel nachdenkt und das Publikum zuweilen verwirrt mit seinen Ansichten: Memphis Depay, 26. Der Kapitän und Stürmer mit einem Bad-Boy-Image, Rapper in der Freizeit, tätowiert von Kopf bis Fuß, ist der Topverdiener im Verein: 420 000 Euro brutto im Monat, für Lyon ist das eine Menge. Als der niederländische Nationalspieler vor drei Jahren von Manchester United nach Lyon wechselte, ließ er ein Schloss für sich suchen, er mag es gerne groß. Kaum war er da, gab er L'Équipe ein Interview, aus dem bis heute oft zitiert wird: "Ich bin ein Sohn Gottes", sagte er da, "natürlich höre ich dem Trainer zu, meinem Agenten, meinen Freunden. Aber was wirklich zählt, ist, was Gott von mir erwartet. Mit Kritik kann ich leben, sie berührt mich nie."

Depay hatte eine schwierige Kindheit, zwischen Schatten und Licht, er redet oft darüber. Der Vater verließ die Familie, da war der Junge vier Jahre alt. Auch deshalb will er, dass auf seinem Trikot nur Memphis steht, den Nachnamen hält er für einen Nachlass des Vaters. Ungerechtigkeiten bringen die Schatten zurück: Im vergangenen Dezember, als Lyon sich nach einem 2:2 im Heimspiel gegen RB Leipzig für das Achtelfinale der Champions League qualifiziert hatte, drohten Ultras, das Spielfeld zu stürmen. Sie waren trotz allem enttäuscht, einer hielt eine Banderole mit einer rassistischen Karikatur gegen Lyons brasilianischen Abwehrchef in den Händen, darauf stand: "Marcelo, hau ab!" Als Depay das sah, rannte er über den ganzen Platz, entriss dem Fan im wilden Pulk das Spruchband und war nahe dran, sich mit ihm zu prügeln. Eine heikle Szene, sie hätte leicht eskalieren können.

Jetzt erinnerte man sich auch daran, dass Depay Essen an Bedürftige verteilt, draußen an der Ringstraße. Er sorgte auch dafür, dass Lyon die Kampagne "Black Lives Matter" ernst nahm. Nach außen ist er ein Bad Boy mit Hang zur Süffisanz, drinnen aber ist offenbar alles etwas komplexer. Lyon will Depay unbedingt halten, doch auch ihn zieht es weg. Jedenfalls war das so bis vor dem Sommer in Lissabon - einem Sommer für Outsider.

© SZ vom 19.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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