Niemand hätte den Lebenslauf von Newcastle United nach mehr als 20 Jahren Champions-League-Abstinenz besser wiedergeben können als Alan Shearer. Der Alt-Internationale wurde in der Stadt geboren und schoss dort als Fußballer mehr Tore als jeder andere. Er stand auch im März 2003 auf dem Platz, als Newcastle sein vorerst letztes Königsklassenspiel bestritten hatte, ein 0:2 gegen Barcelona.
Deshalb warben diverse Rundfunkanstalten beim Heimspiel-Comeback gegen Paris Saint-Germain am Mittwoch um Shearers Expertise, er hätte sich die Bühne aussuchen können. Doch er lehnte alle Anfragen ab - sogar jene der BBC, für die er regelmäßig als Experte wichtige Matches analysiert. Denn die Rückkehr seines Herzensvereins in die Beletage des Europacups bedeutete ihm so viel, dass er sie lieber in Ruhe auf der Ehrentribüne erleben wollte. Shearer fieberte mit, feierte die Tore und war nach dem emotionalen Sieg seines Klubs den Tränen nahe - wie fast alle Fans im St. James' Park, die es mit den Magpies, den Elstern, halten.
Newcastles 4:1 (2:0) über PSG gehört in die Galerie der größten Spiele, die der 1881 gegründete viermalige englische Meister je absolviert hat. Der Sieg glich einer Wiedereingliederung in die europäische Elite, von der sich United Mitte der Nullerjahre unfreiwillig abgekoppelt hatte. Die Boulevardzeitung Mail ordnete den Abend als einen ein, von dem Fans das Matchticket behalten, ein Programmheft kaufen und das Ergebnis fotografieren: Newcastle 4, Paris 1. Entsprechend war der Gemütszustand: over the toon, im siebten Himmel. Toon nennen die Geordies, die Menschen aus Newcastle, in ihrem Dialekt liebevoll ihre Stadt, abgeleitet vom englischen Wort "town".
Shearer wirkte ebenso überwältigt: "Wie die Tage und Nächte vergehen", stammelte er beim Nachrichtendienst X, das Erlebnis sei verdammt "belta" gewesen - ein weiterer geflügelter Geordie-Begriff, der immer zur Anwendung kommt, wenn andere Superlative nicht mehr ausreichen. Vermutlich erinnerte sich Shearer bei seinem Post noch mal an all jene schweren Niederlagen, die United unter dem umstrittenen Voreigentümer Mike Ashley hatte einstecken müssen. Zweimal, 2009 und 2016, stieg der einst dauerkriselnde Klub ab. Es sah zwischendurch nicht so aus, als würde Shearer seinen Lieblingsverein zu Lebzeiten noch mal in der Champions League sehen - bis im Herbst 2021 Saudi-Arabien Newcastle über seinen Milliarden-Staatsfonds übernahm.
Krise über Krise - und dann übernahm Saudi-Arabien Newcastle United
Als United im ersten Spiel nach dem Besitzerwechsel in Führung ging, brach im St. James' Park ein Jubelschrei aus, der wohl bis in alle Filialen des inzwischen Frasers Group heißenden Sportartikelimperiums von Ashley zu hören war. Derart froh waren die Leute, dass der Geschäftsmann, der United finanziell auseinandergenommen hatte, nach 14 Jahren weg war.
Am Mittwochabend dröhnte die Geräuschkulisse noch lauter, weil Newcastle - anders als damals beim 2:3 gegen Tottenham - drei weitere Tore und einen Sieg gegen ein Topteam draufpackte. Dieses 4:1 löst Erstaunen in Fußball-Europa aus. Einer fulminanten Lichtshow am Montag, die Uniteds Trikotsponsor Sela, eine staatliche saudische Eventfirma, mit 500 Drohnen über Newcastle zur Einstimmung organisiert hatte, ließ die Elf von Trainer Eddie Howe ein Feuerwerk folgen.
52 000 Zuschauer forcieren ein Pressing von Newcastle, das PSG kaum aus der eigenen Hälfte kommen lässt
Die entscheidende Szene ereignete sich schon in der dritten Minute. PSG-Verteidiger Marquinhos befand sich im Spielaufbau an der Mittellinie, die tiefstehenden United-Gegenspieler griffen ihn nicht an. Doch statt einen Angriff einzuleiten, löste Marquinhos einen Stillstand aus. Der Ball ruhte vor ihm, dann zog er ihn mit der Sohle mehrmals aufreizend nach hinten. Er wollte den Königsklassen-Neulingen wohl signalisieren: Los, greift an, traut euch! Denn der Plan von PSG-Coach Luis Enrique sah vor, ein stürmisches Newcastle aus der Abwehr zu locken und auszukontern. Dafür opferte er einen Mittelfeldspieler und stellte erstmals in seiner Amtszeit vier Angreifer auf: Ousmane Dembélé, Kylian Mbappé, Gonçalo Ramos und Kolo Muani. Sie blieben immer vorn, um ihre Gegenspieler zu isolieren. Allerdings isolierten sie sich damit selbst, weil der Ball nicht zu ihnen kam.
Nach der Marquinhos-Provokation ging Newcastle dann richtig drauf. Und zwar nicht zu elft, sondern mit fast allen der 52 000 Zuschauer im Rücken. Ihr Gebrüll befeuerte Newcastles Dauerpressing, das sich überschätzende PSG kam kaum aus der eigenen Hälfte. In der 17. Minute verlor dann just Marquinhos am Strafraum den Ball, sein Fehler leitete das 1:0 für United durch Miguel Almirón ein. Auf identische Art fielen die Treffer drei und vier, die Schützen hießen Sean Longstaff und Fabian Schär. Zuvor hatte noch Dan Burn einen Kopfball ins Netz gewuchtet. Von PSG war kaum etwas zu sehen - und Mbappé nur auf der Titelseite von L'Équipe. Die Schlagzeile dazu: "La Désillusion".
Noch desillusionierender als die Leistung ihres Teams dürfte für die katarische Herrscherfamilie, die PSG besitzt, gewesen sein, dass sie bei diesem 1:4 durch ihre geopolitischen saudischen Rivalen vorgeführt wurden. Anders als die katarische PSG-Führung kaufte sich Newcastle keine Topstars, sondern ein Topteam. Am besten verkörpern das die aus Newcastle stammenden Identifikationsfiguren Burn und Longstaff, die trotz namhafterer Zugänge nie fortgeschickt wurden. Newcastles Erfolg wäre ein Lehrstück für den Neuaufbau eines Vereins - wenn ihn nicht die Saudis zur Aufpolierung ihres Ansehens und ihrer Machtinteressen benutzen würden.
Doch davon lässt sich das fußballverrückte Newcastle nicht die Freude am Höhenflug verderben. Zu tief war der Klub zuvor gefallen. Bei der Choreografie vor Spielbeginn stellten sich die Fans mit einem berühmten Schlachtruf der Fußballwelt vor: "Hello! Hello! We are the Geordie boys." Nach diesem 4:1 sind sie nun auch über England hinaus bekannt.
Klublegende Alan Shearer kündigte nach dem Abpfiff an, bei ihm sei ein "Kater im Anmarsch". Bis zum nächsten Champions-League-Spiel gegen Dortmund in drei Wochen sollte er wieder fit sein. Dann sei er, heißt es, wieder für die BBC im Einsatz.