Champions League:Der FC Bayern verliert seine defensive Autorität

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Der Moment, nachdem mindestens eine Muskelfaser riss: Jérôme Boateng am Mittwoch gegen Real Madrid am Boden. (Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Jérôme Boateng fällt wegen einer "strukturellen Verletzung der Adduktoren-Muskulatur im linken Oberschenkel" vier bis sechs Wochen aus
  • In der entscheidenden Phase der Saison fehlt dem FC Bayern plötzlich das defensive Fundament.
  • Dem Bundestrainer Joachim Löw steht ja nun eine schwere Entscheidung bevor: Kann er es sich leisten, Boateng in seinen Kader zu berufen und ihn übers Trainingslager und die WM-Vorrunde hinweg erst wieder aufzubauen?

Von Christof Kneer, München

Pep Guardiola hätte man das zugetraut, aber Jupp Heynckes? Guardiola stand in München ja immer in dem Ruf, einen Fußball in Auftrag zu geben, der den Gegner herzlich zum Kontern einlädt, und ihm, Guardiola, hätte man so eine Aufstellung selbstverständlich zugetraut: Mit nur einem defensiven Mittelfeldspieler (Javi Martinez) und davor zwei Spezialbegabungen (James, Thomas Müller), die Abwehrarbeit schon irgendwie wichtig finden, aber halt doch eher dann, wenn sie sie nicht unbedingt selber machen müssen. Dazu noch zwei Abenteurer auf dem Flügel (Arjen Robben, Franck Ribéry), die eher enthusiastisches Willenspressing praktizieren, anstatt regelmäßigen Mustern zu folgen, und ganz vorne dann noch der große Sturmsolitär Robert Lewandowski, der Mannschaftsspiel so definiert, dass eine Mannschaft dafür da ist, ihm die Bälle hin zu spielen.

Und das sollte funktionieren, gegen die gnadenlos auf gegnerische Lücken abgerichteten Effektivitätsmonster von Real?

Man wird nie erfahren, wie das Hinspiel im Champions-League-Halbfinale mit dieser mutigen Aufstellung ausgegangen wäre, die Aufstellung hielt wie Robbens Muskulatur nur acht Minuten lang. Dann kam Thiago, die Statik veränderte sich, und bald gab es andere Themen, über die sich Leute, die es mit den Bayern halten, abendfüllend den Kopf zerbrechen konnten.

Beim ersten Gegentor stürzt das gesamte System ab

Dennoch enthielt die Startelf eine seriöse Nachricht, und zwar keineswegs jene, dass der souveräne Heynckes plötzlich die Nerven verloren hätte. Die Nachricht war, dass Heynckes sich vorne so sehr ins Risiko traute, weil er hinten so viel Vertrauen hatte. Jérome Boateng und Mats Hummels in der Abwehrzentrale, davor der bewährte Personenschützer Martinez und dahinter der zuletzt fast neueresk verehrte Sven Ulreich: Dieser autoritäre Block kann ein ganzes Spiel tragen, man kann diesem Block durchaus mal mehr zumuten als anderen Blöcken vergleichbarer Mannschaften.

Und das ist nun vor dem Rückspiel am Dienstag die wirklich schlechte Nachricht für den FC Bayern, neben der Tatsache, dass das Hinspiel gegen die spanischen Effektivitätsmonster 1:2 (1:1) verloren ging: Die Bayern haben pünktlich zur entscheidenden Phase der Saison ihre Autorität eingebüßt. Boateng werde wegen einer "strukturellen Verletzung der Adduktoren-Muskulatur im linken Oberschenkel" vier bis sechs Wochen ausfallen, bestätigte der FC Bayern am Donnerstag, was gleichbedeutend mit dem Saisonende ist. "Strukturelle Verletzungen" melden Klubs gerne dann, wenn sie nicht genau sagen können oder wollen, ob der Faseriss ein Faserrisschen oder doch ein Bündelriss ist.

Seine Abwehr habe diesmal "Geschenke verteilt", bilanzierte Jupp Heynckes und bezog sich nicht nur auf Rafinhas beeindruckenden Ballverlust vor dem zweiten Gegentor. Beim ersten Gegentor hatte es Bayerns Abwehr den Experten immerhin schwerer gemacht, Schuldige zu finden, es war das ganze System, das für einen Moment abstürzte. Keiner verhinderte außen Carvajals Hereingabe, keiner störte ihn oder drängte ihn ab, drinnen verlor Martinez die Orientierung, keiner störte den Torschützen Marcelo oder drängte ihn ab: "Eiertore" habe man kassiert, meinte später der eingewechselte Niklas Süle.

Es ist fast eine Art Alleinstellungsmerkmal, das den Bayern da Muskel für Muskel und Knochen um Knochen abhanden gekommen ist. Hoch veranlagte Teams wie Manchester City, Barcelona oder Paris sind ja auch deshalb schon ausgeschieden, weil sie sich Innenverteidiger wie Otamendi, Kompany (Manchester), Umtiti (Barcelona) oder Marquinhos und Thiago Silva (Paris) leisten, die auf allerhöchstem Niveau noch nicht, nicht mehr oder nicht immer verlässlich sind.

Da das Bayern-Fundament bröckelt, bröckelt auch das der Nationalelf

Dagegen die Wunsch-Elf in Bayerns stolzestem Mannschaftsteil: Neuer im Tor, Kimmich, Boateng, Hummels und Alaba in der Abwehr und davor Martinez und Arturo Vidal - dieser defensiven Qualität hat höchstens Real Madrid Ebenbürtiges entgegen zu setzen. Und nun also, gerade gegen Real, dieses: Neuer noch nicht im Kader, Vidal auch nicht (Knie), Alaba kurzfristig ausgefallen (Oberschenkel), Boateng raus mit seinem strukturellen Muskeldings, Martinez mit Schädelbrummen ausgewechselt - Hummels spielte zwar, aber so, wie er sonst eher nicht spielt, fahrig, schwergängig, ohne Grip. Martinez wird im Rückspiel samt seinem Schädel wohl wieder dabei sein, Alaba vielleicht, und bei Hummels haben die Bayern zumindest die Hoffnung, dass er in Madrid dann wieder wie Hummels spielt.

Schon blöd: In der Bundesliga sind die Bayern bedenklich konkurrenzlos, in der K.o.-Runde der Champions League haben sie bisher nur die bundesliga-artigen Istanbul und Sevilla erwischt - und nun, da die Saison endlich losgeht, mit Gegnern und so, fehlt plötzlich das Fundament.

Es ist unpraktischerweise jenes Fundament, auf dem auch die andere oberste Mannschaft im Land aufbaut, die deutsche Nationalmannschaft. Dem Bundestrainer Joachim Löw steht ja nun eine schwere Entscheidung bevor: Kann er es sich leisten, Boateng in seinen Kader zu berufen und ihn übers Trainingslager und die WM-Vorrunde hinweg erst wieder aufzubauen? Wollen würde Löw, das steht fest, zu sehr schätzt er seinen Abwehrchef. Aber er wird abwägen müssen, ob er wirklich mit gleich zwei Sorgenkindern ins Turnier ziehen kann, auch Manuel Neuer dürfte ja einstweilen eine Risikopersonalie bleiben.

Jupp Heynckes wird das als Pensionär verfolgen, sehr entspannt wahrscheinlich. Aber sehr wahrscheinlich eben auch ohne diesen Titel in der Champions League.

© SZ vom 27.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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