BVB in der Europa League:Tuchel scheitert an der Vergangenheit

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Wie konnte das schiefgehen? Das Spiel in Liverpool hätte nicht mehr kippen dürfen. Dennoch ist erklärbar, was an der Anfield Road ablief.

Kommentar von Martin Schneider

Nach allem, was man im modernen Fußball so weiß, muss gesagt werden: Niemals darf dieses Spiel kippen und so ausgehen. Borussia Dortmund war im Hinspiel in Dortmund die bessere Mannschaft - nur 1:1 stand es am Ende. Der BVB war auch in der ersten Halbzeit von Anfield die klar bessere Mannschaft - sie führte nach zwei wunderbaren Kontern 2:0, später 3:1. Doch das Spiel ging so aus, wie es ausging. 4:3 für Liverpool, durch ein Kopfballtor in der 91. Minute.

Immer, wenn Menschen im Fußball nicht mehr weiterwissen, wenn keine taktische Erklärung mehr greift, wenn keine Schiedsrichterentscheidung mehr herhalten kann, dann sagen Menschen sehr gerne den Satz: "Das ist Fußball." Aller Wahnsinn in drei Worten. Thomas Tuchel, der normalerweise jedes Fußballspiel erklären kann, benutzte den Satz auf der Pressekonferenz leicht abgewandelt auf Englisch: "Things like this happen in soccer."

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Tuchel kapituliert vor den Ereignissen

"Wie konnte das schiefgehen?" fragte ein Reporter als Erstes. Die einzige wichtige Frage des Abends. Und Tuchel tat das einzig Richtige: Er kapitulierte vor den Ereignissen. "Wenn Sie eine Erklärung erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Eine Erklärung würde bedeuten, dass Sachen logisch oder taktisch bedingt waren. Aber nichts davon passierte."

Dortmund ist in Liverpool an der eigenen Vergangenheit gescheitert. An Sekundärtugenden des Fußballs, an Mentalität, Siegeswille, Zweikampfhärte und Standardsituationen. Thomas Tuchel ist einer, der sich niemals auf solche Sekundärtugenden verlassen würde, er ist ein Bruder im Geiste von Pep Guardiola. Taktische Flexibilität, Zwischenräume, Halbräume, Pressinglinien, in diesen Begriffen denkt Tuchel. Gras fressen und Pfosten abbeißen, so hat man in den 80ern Spieler auf das Feld geschickt.

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Niemals würde sich Thomas Tuchel nach einem Spiel hinstellen und "Die anderen haben den Sieg mehr gewollt", als schlüssige Erklärung durchgehen lassen.

Vielleicht haben der BVB und ihr Trainer die Bedeutung dieser Tugenden unterschätzt. Tuchel wollte ja streng logisch an diese ganze Sache rangehen. "Es ist ein sehr realistisches Szenario, dass die Bayern Meister werden", sagte Tuchel vor dem Derby gegen Schalke und ließ seine halbe Stammbesetzung auf der Bank. Eine Risiko- und Güterabwägung. Fünf Punkte gegen Bayern aufholen versus einer Titelchance in der Europa League. Tuchel entschied sich und gab das Titelrennen auf.

Sportwissenschaftlich ist das sinnvoll (wenn Mats Hummels geschont wird, spricht der BVB ja auch von 'individueller Belastungssteuerung'), psychologisch, oder wie Oliver Kahn sagen würde "mental" vermittele ich meiner Mannschaft: "Die schweren Siege gegen Bremen, Augsburg, Mainz - hat nichts gebracht. Wir geben auf, bevor wir aufgeben müssen." Jetzt hat Dortmund als Titelchance noch den DFB-Pokal, kommende Woche spielen sie bei der Hertha in Berlin, die zum ersten Mal ins Finale im eigenen Stadion einziehen kann. Vermutlich wird es ein emotionales Spiel.

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Klopp bringt Stürmer um Stürmer

Ausgerechnet Tuchels Rolemodel Pep Guardiola hat ja in den vergangenen zwei Jahren festgestellt, was es mit einer Mannschaft macht, die zu früh in der Liga keinen Wettbewerb mehr hat. Gut, das lag daran, dass die Bayern sehr früh Meister wurden, aber der Effekt im Europapokal war derselbe. Aus gegen Madrid, Aus gegen Barcelona. Und auch Aus gegen Klopp, damals noch auf der Dortmunder Bank, im Halbfinale des DFB-Pokals. In einem Flutlicht-Spiel, in dem Bayern führte, lange überlegen war.

Überhaupt: Klopp. Natürlich funktionieren diese Sekundärtugenden nicht (mehr) über einen längeren Zeitraum. Niemand kann ständig Vollgas-Fußball spielen. Niemand kann ständig seine Mannschaft pushen. Im vergangenen Jahr war Dortmund unter dem Ober-Pusher Klopp zwischenzeitlich Tabellenletzter.

Aber an besonderen Abenden, unter Flutlicht, in einem Stadion wie der Anfield Road, da funktioniert Klopp. Er brachte Stürmer, "überlud die Offensive", wie es im modernen Fußball heißt, und ging volles Risiko. "Liverpool hatte keine richtigen Positionen mehr", sagte Tuchel. Vollgas-Fußball eben. Dortmund verlor Zweikämpfe, verteidigte stümperphaft, verzagte, hielt nicht dagegen. Liverpool hatt den Sieg tatsächlich mehr gewollt.

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