Derby Hertha vs Union:Das Land staunt über Köpenick

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Max Kruse (rechts) tut dem 1. FC Union richtig gut. (Foto: dpa)

Der 1. FC Union ist Hertha BSC vor dem Derby in vielerlei Hinsicht enteilt - auch in einem Bereich, in dem der Rivale ganz weit vorn sein wollte.

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Neulich, da hatte Urs Fischer eine Frage umfassend beantwortet, die ihn nun, am Vorabend des Berliner Derbys, doch wieder erreichte. Ob er auch emotional werden könne, wurde er gefragt; ein Zweifel, der sich daraus erklärt, dass der Schweizer sonst immer für Berliner Ohren sehr getragen und beherrscht spricht. Und eine Begegnung mit dem Stadtrivalen Wallungen im Vorfeld ganz gut vertragen kann. Nun: Fischer kann. Am Tag, da er den Beweis dessen antrat, war er sogar an die Decke gegangen, gereizt, wie er war, weil er gefragt wurde, ob sich der 1. FC Union Berlin nicht mal langsam Gedanken über eine Qualifikation für einen kontinentalen Wettbewerb machen sollte. Ob er, der Coach, entsprechende Prämien im Vertrag stehen habe. Ob man den Fans in Köpenick nicht mal ...

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"Es ist dumm, und es ist doof, über Europa nachzudenken. Erzählen Sie nicht so was!", rief Fischer und wirkte dabei, als sei er die Schweizer Variante von Alex Ferguson, der einst, zu seinen Zeiten als Trainer, die Spieler von Manchester United dem sogenannten 'hairdryer treatment' unterzog. Sprich: seine Spieler mit der Kraft seiner Stimmbänder föhnte.

Fischer erreichte mit seinem Ausbruch vor allem eines: Unmittelbar vor dem Berliner Derby bei Hertha BSC kam niemand mehr auf die Idee, Fischer nach Europa zu fragen. Obwohl sich an der Lage kaum etwas geändert hat. Union ist seit acht Bundesliga-Spielen ungeschlagen und steht da, wo die Hertha, die im gleichen Zeitraum fünf Partien verlor und nur einen Sieg landete, gerne wäre: auf Tabellenplatz sechs. Sechs Punkte vom Tabellenführer FC Bayern entfernt. Sollte Union am Freitagabend im absehbar eisigen Berliner Westend gewinnen (20.30 Uhr) und das 0:4 aus dem letzten Derby vergessen machen, so würde der Verein aus Köpenick mindestens eine Nacht auf einem Champions-League-Platz zubringen. Was sich ein bisschen so anhört, als würde der weltbeste Fußballer jahrelang beim, sagen wir, SSC Neapel spielen. Und Hertha will endlich den ersten Heimsieg der Saison einfahren.

Und wenn schon, sagte Fischer sinngemäß, das Ziel ändere sich doch nicht deswegen. Das lautet immer noch: Klassenerhalt.

Die Mannschaft streut ab und zu sogar Kurzpass-Passagen ein

Was andererseits nicht heißt, dass Fischer frei von Ambitionen wäre. Im Gegenteil. Er zählt zu den wenigen bei Union, die wissen, was es heißt, nationaler Meister zu werden, international zu spielen, und dass das Wegmarken sind, die begierig machen. Süchtig. Aber mit Union zu ertasten, wie viel möglich ist, funktioniert offenkundig als formidables Methadonprogramm. Und das beinhaltet, dass man bei Union fußballerische Entwicklungsschritte anstrebt. Und diese, im Gegensatz zur neu formierten, stets bemühten Entwicklung bei Hertha, auch umsetzt.

Schon seit geraumer Zeit staunt das Land über die Stabilität sowie die spielerische Stärke Unions. In Köpenick sind sie auch verwundert. Darüber, dass die Nation mit so großen Augen auf sie stiert und dem Irrglauben erliegt, die Mannschaft hätte mehrere Zeitabschnitte in der Erdgeschichte übersprungen - aus dem Stand vom Pleistozän in die Moderne.

"Die Liga hat ein anderes Bild von uns im Gegensatz zum letzten Jahr, aber das macht uns in der Mannschaft wenig aus", sagt etwa Robert Andrich, "letztes Jahr hieß es: Die Kämpfertruppe, die knallen die Bälle nur lang." Dass das in dieser Apodiktik unzutreffend war, das war den Unionern damals schon bewusst, im Großen wie im Kleinen: "Ich wurde ja auch immer so ein bisschen dargestellt, als ob ich gar keinen Fußball spielen könnte und nur dafür da wäre, dazwischenzuhauen ...", sagt er. Von wegen! Er ist nicht mehr der vermeintliche Nachfahre von Fred Feuerstein, sondern Teil einer Mannschaft, die nun, ooooh!, auch Kurzpässe, sogar: ganze Kurzpass- Passagen einstreut.

"Das ist für viele Leute ansehnlicher, obwohl das Quatsch ist, weil entscheidend ist, wie viele Punkte am Ende rauskommen", sagt Andrich. Zurzeit sind's derer 18. Oder: acht mehr als beim Big City Club, der so viele Millionen von der Investmentgesellschaft "Tennor" des Unternehmers Lars Windhorst bekam, dass er im Januar zum Wintertransferfenster-Weltmeister wurde und 2020 den ein oder anderen Hoffnung weckenden Spieler holte. Mittelfeldspieler Mattéo Guendouzi etwa, der aber nur bis Saisonende ausgeliehen ist, oder Stürmer Matheus Cunha, der kaum zu halten sein wird, wenn er weiter einhält, was er verspricht, und bislang mit acht Scorerpunkten glänzt. Cunha, davon darf man ausgehen, schaut sich sehr genau an, wie Hertha sich entwickelt und was das für ihn selbst bedeutet. In Köpenick hingegen dockte Max Kruse an, ablösetechnisch für lau. Er hat sich eingefügt, Union nicht nur fußballerisch bereichert, den Fächer der Möglichkeiten aufgespannt, sondern - trotz seiner expansiven Persönlichkeit - auch: als Typ.

Der Frei- und Schöngeist Kruse bereichert Union

Allein in den vergangenen fünf Spielen summierte Kruse zehn Scorerpunkte; er vermag es, Bälle zu halten und zu verteilen oder Gegenspieler auf sich zu ziehen, was wiederum Räume für andere schafft. Bei Union teilen sich elf Spieler die bislang 21 Tore auf, bei Hertha sind es sechs Spieler für 14 Treffer. Trainer Fischer war vom Frei- und Schöngeist Kruse vom ersten Trainingstag an begeistert, und nennt ihn nun überdies einen "tollen Jungen", was eine Art von Lob ist, das ihm öffentlich gar nicht so häufig über die Lippen kommt.

Und just, wenn man sich fragt, wie wohl die Mannschaft den Hype um Kruse verdaut, weil etwa Robert Andrich mault, "es geht nicht immer nur um Max Kruse", dann kommt ebendieser Kruse in den sozialen Netzwerken mit einer sogenannten Story über seinen "Freund Robert" daher, der als @kidrob30 "gern auf 10K Follower kommen" möchte, "dann gibt es nämlich Rabattcodes". Man mag sich und neckt sich.

Und die Hertha? Bekommt in den Fachmagazinen gerade ganz analog um die Ohren, und dann auch noch just in dem Bereich, bei dem man ganz weit vorn sein wollte, beim Branding und Marketing und wie das Gedöns sonst noch so heißt. Die Sport-Bild kramte den "Marken-Index" der TU Braunschweig aus, im Unterpunkt "Sympathie" liege Union unter den 36 Erst- und Zweitligisten auf Platz sieben, Hertha hingegen auf Platz 35. Die Quittung dafür, dass der Klub seit Jahrzehnten immer etwas anderes und vor allem: Hippes sein will. Bis ihn nun, ganz aktuell, der kicker nach den Verrenkungen der Vergangenheit sogar unter Travestie-Verdacht stellte: "Wie ein verzweifelter Mann in der Midlife-Crisis" käme Hertha daher. Dabei war die Hertha doch einfach nur eine Alte Dame.

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