Nein, die Mainzer werden nicht dafür sorgen, dass sich Geschichte wiederholt. Auch wenn der Hauptverantwortliche jener vielbesungenen Geschichte es ihnen zutraut: Otto Rehhagel. Der Trainer führte den 1. FC Kaiserslautern aus der zweiten in die erste Liga - direkt zum deutschen Meistertitel 1998. Die Mainzer schütteln die Köpfe ob dieses Vergleichs mit den Roten Teufeln, denn: "Wir sind ja kein Aufsteiger", sagt Manager Christian Heidel.
So ganz hinkt der Vergleich jedoch nicht - denn auch die Mainzer sind unerwartete Emporkömmlinge. Zudem geistert derzeit das Wort "Startrekord" durch viele Köpfe und Zeitungen. Noch ein Sieg, dann haben die Mainzer den bestehenden Rekord von sieben Siegen in Serie eingestellt. Rekordhalter bislang: der 1. FC Kaiserslautern (in der Saison 2001/02) und der FC Bayern (1995/96). In der Meistersaison hatten die Roten Teufel gleich am ersten Spieltag die Bayern geschlagen. Als nun am vergangenen Samstag Mainz den Rekordmeister aus München mit 2:1 besiegte, fühlte sich selbst der große Louis van Gaal genötigt, die Meister-Parallele zu ziehen: "Das hat Kaiserslautern auch einmal geschafft, warum nicht auch Mainz?"
Die Philosophie des Spiels
Mainz ist in dieser Saison ein ebensolcher Außenseiter wie es Kaiserslautern 1998 war. Beide Rheinland-Pfälzer Städte sind eher klein (Mainz hat immerhin 198.000 Einwohner, doppelt so viele wie Kaiserslautern), die Budgets ihrer Fußballklubs auch (der Mainzer Etat liegt bei 17 Millionen Euro). Otto Rehhagel, der Sensations-Meistertrainer von 1998, hat dagegen nicht viel gemeinsam mit Thomas Tuchel, dem jugendlichen Trainer des Sensations-Tabellenführers. Nur eines: überraschenden Erfolg. "Fußball ist kein Laptop-Spiel", sagt der 72-jährige Rehhagel in der Bild: "Es ist ein Spiel der Unwägbarkeiten. Man kann auch gegen die Etablierten gut aussehen, wenn man geistig frisch ist."
Ganz anders als Tuchel setzte Rehhagel vor allem auf ältere, routinierte Spieler wie Olaf Marschall, Ciriaco Sforza oder Miroslav Kadlec. Mit kompromossloser Defensivarbeit führte er 2004 dann den krassen Außenseiter Griechenland zum Europameistertitel. Mit viel Kampf, langen Bällen und der Wiedereinführung des Liberos. Das Spiel der Mainzer ist ein anderes. "Sie spielen erfrischenden Fußball", sagt der Mann, der in Deutschland zu "König Otto" und in Griechenland zu "Rehakles" wurde.
Auch Tuchel führt gerade einen Außenseiter in ungewohnte Höhen. Der 37-Jährige ist etwa halb so alt wie der zum Griechen des Jahres 2004 gewählte Rehhagel - und seine Interpretation von Fußball ist eine völlig andere: schnell, variabel, offensiv, attraktiv, angelehnt an die Barça-Schule, die Spielphilosophie des FC Barcelona. Die Katalanen bauen auf den eigenen Nachwuchs, auf taktische Variabilität, auf ein schön anzuschauendes Kurzpassspiel. Thomas Tuchel bewundert an Barça vor allem "die Demut, mit der die Spieler ihren Sport ausüben".
Am Samstag trifft Mainz auf 1899 Hoffenheim - und Thomas Tuchel auf seinen ehemaligen Trainer. Bis 1998 spielte er unter Ralf Rangnick beim SSV Ulm. Dann musste der Verteidiger seine Karriere wegen eines Knorpelschadens im Knie beenden. Rangnick verfolgt mit Hoffenheim ein ähnliches Spielkonzept wie die Mainzer, war in der vergangenen Saison das Überraschungsteam der Hinserie - und stürzte nach Weihnachten ab. So steht auch Rehhagel der Entwicklung in Mainz nicht nur optimistisch gegenüber: "Alle stellen sich jetzt auf ihr Spiel ein", sagt er, "die Konkurrenz wird wach. Sie beobachtet Mainz genau".
Schön und erfolgreich
Tuchel ist es bisher dennoch gelungen, die Gegner immer wieder zu überraschen. Durch taktische Umstellungen, Rotation, spielentscheidende Einwechslungen. Manager Christian Heidel spricht vom "besten Mainzer Kader aller Zeiten". 2001 hatte er Jürgen Klopp zum Mainzer Cheftrainer gemacht - 2009 beförderte er den Junioren-Trainer Tuchel. Heute lassen diese beiden Trainer den derzeit schönsten und erfolgreichsten Fußball der Bundesliga spielen. Tuchels Mainzer sind Tabellenführer, Klopps Dortmunder folgen auf Rang zwei. Eine Momentaufnahme - noch ist die Saison jung, die jungen Mainzer und Dortmunder Mannschaften müssen erst noch beweisen, dass sie konstant auf hohem Niveau spielen können.
"An Weihnachten kann man mehr dazu sagen", sagt Rehhagel über das Mainzer Modell. Bislang hat sich das moderne Tuchelsche Spielsystem bewährt: Mainz schafft es, schön und erfolgreich zu spielen. Doch egal, was in dieser Saison noch passiert, der Fußball-Philosoph Rehhagel wird am Ende wieder mit seiner zeitlosen Weisheit richtig liegen: "Modern spielt, wer gewinnt."