Die Klagen, die Mehmet Scholl vor ein paar Wochen über den Werdegang des deutschen Fußballs äußerte, kamen Christian Heidel irgendwie bekannt vor, er hatte das alles schon mal auf ähnliche Weise gehört. Vor ein paar Jahren hatte ihn Scholl angerufen, die beiden kannten sich bis dahin nicht persönlich. Sie vereinbarten ein Treffen in Mainz, gingen in eine Bar, tranken Wein und unterhielten sich bis in die Nacht. Scholl hatte Heidel, der damals noch Manager bei Mainz 05 war, erklären wollen, was ihn am Fußball der Gegenwart stört, aber auch nach stundenlanger Diskussion kam man nicht überein. Heidel, der in Fußballdingen viel mehr Praxis- als Theoriemensch ist, sah sich einem Kulturpessimisten gegenüber und hatte den Verdacht, dass Scholl mit sich selbst nicht einig war.
Daher entstand jetzt beim Schalker Manager der Eindruck, eine Wiederholung empfangen zu haben, und wie damals kamen ihm Scholls Worte wieder zwiespältig vor. Begründete Kritik traf auf Verklärung, diffuses Befremden und persönliche Betroffenheit. Gipfelnd in dem Satz: "Studenten haben die Nachwuchsleistungszentren und unsere große Liebe, den Fußball, übernommen." Nun, glaubt Scholl, führten Theoretiker wie Hannes Wolf (VfB Stuttgart) oder Domenico Tedesco (Schalke 04) das schöne Spiel auf den Irrweg.
"Wenig Spielaufbau, kompakt stehen, schnell umschalten - das ist die Bundesliga."
Mehmet Scholl - der sich leider nicht bereitfand, seine Thesen an dieser Stelle noch mal zu vertiefen - mag von persönlichen Motiven bewegt werden, er kommt mit seinen Äußerungen aber einem verbreiteten Unbehagen in der hiesigen Fußballkultur entgegen. Jenseits all der kapitalistischen Zeiterscheinungen, die sich unter anderem in Ablösesummen, Gehältern, Wanderarbeiter-Mentalität der Profis und der tabellarischen Tyrannei des FC Bayern ausdrücken, geht es dabei um den sportlichen Stand des Fußballs in der Bundesliga. Die Fachzeitung kicker gründete darauf einen Debattenbeitrag, der den drastischen Titel "Der Absturz" trug und als zentralen Gedanken Folgendes formulierte: "Der deutsche Fußball leidet unter einem großen Problem: dem Fußball."
Tatsächlich liegt hinter der Liga eine Halbserie, in der man häufig das Gefühl hatte, dass an den meisten Orten die gleiche freudlose Aufführung gegeben wird. Gemäß den stereotypen Grundsätzen der herrschenden Lehre: kompakt stehen, hinten nichts zulassen, offensiv Nadelstiche setzen, auf zweite Bälle gehen. So, wie es Eintracht Frankfurts Trainer Niko Kovac beschreibt: "wenig Spielaufbau, kompakt stehen, schnell umschalten - das ist die Bundesliga: Wir sind eine der Ligen, in der sehr aggressiv nach vorn verteidigt und aggressiv gegen den Ball gearbeitet wird." Disziplin, Einsatz und Tempo haben in der Gegen-den-Ball-Liga Priorität, Spielkunst gerät da zwangsläufig zum untergeordneten Faktor. Fußball, das schöne Spiel, wird zu einer Art geordnetem Gewaltakt, und die Nivellierung der Systeme führt nicht nur zu dichtem Verkehr fern der Strafräume und zur Abfolge von verbissenen Kampfhandlungen auf engsten Territorien - sondern, manchmal, auch zu Gleichförmigkeit und zum Verdruss bei so manchem Zuschauer.
Aber warum wird Fußball gespielt? "Ich glaube nicht, dass Spieler auf den Platz gehen, um Sprints zu machen. Sie wollen den Ball haben. Der Ball ist eine Droge. Wir spielen Fußball, weil wir süchtig nach dem Ball sind", hat der ehemalige spanische Nationalspieler und FC-Barcelona-Star Xavi, 37, jetzt in einem Interview mit El País festgestellt. Der Fußball sei jedoch in physischer und taktischer Hinsicht "explodiert", befindet Xavi und entwickelt daraus ein Theorem für das 21. Jahrhundert: Sobald das kreative Talent gegen die Physis keine Chance habe, sei Fußball nicht mehr faszinierend, sondern langweilig. Im ewigen Ringen zwischen dem schöpferischen und dem destruktiven Fußball - logische Folge des Verhältnisses zwischen Favorit und Außenseiter - empfiehlt Xavi ein altes Gegenmittel, das Trainingsspiel namens Rondo. Fünf (oder auch sieben) Spieler lassen im Kreis den Ball zirkulieren, zwei Spieler in der Mitte versuchen den Fluss zu stoppen.
Diese simple Übung ist beides: Zeitvertreib und hohe Schule für Technik und präzises Pass-Spiel. Das Rondo steht für das Verlangen nach dem Spiel mit dem Ball statt gegen den Ball.
In Spaniens Primera División wäre zum Beispiel die versierte Wolfsburger Offensive mit Daniel Didavi, Yunus Malli, Divock Origi und Mario Gomez eine Attraktion, in der Bundesliga stellt sie mangels hinreichender Laufleistung ein Betriebsrisiko dar - weshalb Gomez künftig in Stuttgart stürmt. Während in Spanien auch Klubs aus der niederen Tabellenregion technisch hohen Standard wahren, sind die deutschen Teams rar, die sich ihrer Aufgaben bevorzugt spielerisch nähern: Bayern München, Hoffenheim, Dortmund, Mönchengladbach mit seinem filigranen Konterspiel. Auch Leipzig bemüht sich trotz der Oberaufsicht des Gegen-den-Ball-Erfinders Ralf Rangnick um mehr produktiven Ballbesitz, was Ausdruck der Karriere ist, die RB in der Liga gemacht hat. Ansonsten feierten in der laufenden Saison zwei Prinzipien Triumphe: Das Blockadekonstrukt der Dreier-Abwehrkette, das in Wahrheit eine Fünfer-Kette ist; und die alte Weisheit, die Bixente Lizarazu prägte: "In der Bundesliga you have to win Zweikampf."
"Am Ende fehlt dann die Freiheit für die fußballerische Kreativität."
Wenn Mehmet Scholl jetzt auf der Suche nach den Wurzeln des Problems die gleichmacherische Nachwuchslehre anklagt, in der man das Dribbeln nicht mehr lernt, dann liegt er nicht ganz richtig, denn diese Lehre hat Spieler wie Julian Draxler, Julian Brandt, Leroy Sané oder Serge Gnabry hervorgebracht. Andererseits hat er allerdings Recht, weil diese hochwertige Ausbildung auch die vielen weniger begabten Spieler optimiert, die dann in jungen Jahren lernen, dass Kompaktstehen das Allerwichtigste ist. Leidenschaftliche Individuen, wie Scholl es als Spieler war, werden im Systemdenken eingeschränkt, das weiß auch der DFB-Sportdirektor Horst Hrubesch. Durch den konzentrierten Transfermarkt in den Juniorenklassen kämen die herausragenden Talente an relativ wenigen Standorten zusammen, sagt er, und dort werde es dann für Einzelne schwieriger, "die Persönlichkeit auszuleben". Der Verband und die Vereine hätten das aber erkannt, sagt DFB-Nachwuchschef Meikel Schönweitz: "Es gibt ein Problem der Gleichschaltung in den Jugendteams", sagte er der Bild, "da fehlt dann am Ende die Freiheit für die fußballerische Kreativität."
Im Interesse eines künftig wieder schöneren Spiels ist diese Einsicht ein Lichtblick, der auch dem Skeptiker Scholl gefallen müsste - auch wenn sie ein Mann vorbringt, der wie ein Student redet und kein einziges Länderspiel gemacht hat.