Brasilien hofft auf Neymar:Der Junge mit der Zehn

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Wichtigster Brasilianer überhaupt: der Fußballer Neymar (Foto: Getty Images)

Neymar ist der letzte Vertreter des "Jogo bonito", des sogenannten schönen Spiels, das die Fans in Brasilien traditionell fordern. Trainer Scolari stützt ihn bedingungslos - und treibt listig die Umerziehung des Solokünstlers voran.

Von Thomas Kistner, Fortaleza

Neymar spaziert über den Fischmarkt von Mucuripe, den Arm lässig um die Freundin geschlungen; die Mohawk-Frisur sitzt. Aber die Tagelöhner auf den vom Salz vernarbten Bänken im Schatten, die ihre Arbeit auf den handgefertigten Holzbooten, den Jagandas, hinter sich haben und ihr erstes Schlückchen Zuckerrohrschnaps süffeln, schauen nicht mal hin. Warum auch, Neymar ist hier allgegenwärtig. Ein Stück weiter am Iracema-Strand radelt er mit einer Autobatterie auf dem Gepäckträger herum, aus Lautsprechern, die an der Lenkstange befestigt sind, wummert ein Reggae, als wäre ein aufgetunter Hummer-Jeep unterwegs.

Alle wollen Neymar sein, und dafür genügt es nicht mehr, das kanariengelbe Trikot der Seleção überzuziehen. Denn erstens laufen sie hier schon seit Jahrzehnten in den nummerierten Jerseys herum, lange bevor der Trend Europa erreichte. Zweitens hält es einen hübsch auf Trab, alle paar Wochen die Frisur zu modifizieren. Aufs Strähnchen genau nach Art des Idols.

Der echte Neymar übt am Montagnachmittag im Stadion Presidente Vargas, im Stadtzentrum, für das Spiel am Mittwoch gegen Mexiko. Aber mit Üben ist nicht viel, Trainer Felipe Scolari lässt die erste Garnitur nur auf Gymnastikmatten herumturnen, während die Reservisten ein Spielchen gegen die U21 des lokalen Zweitligisten austragen. Derweil schreien sich draußen vor dem Stadion zwei-, dreitausend Teenager die Kehlen wund - "Neymar! Neymar! Neymar!" -, bis der Trainingskick vorbei ist und die Teamführung ein Einsehen hat: Sie dürfen rein ins Stadion, Militärpolizei geleitet einen bunten, summenden Schwarm auf die Gegentribüne, und als sie versammelt sind, die Tausendschaften Neymarzetes, wie seine weiblichen Anhänger im Lande heißen, erhebt sich der 21- Jährige, federt lässig Richtung Mittelkreis und erhebt beide Arme zum Gruß.

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Obwohl das hier nur ein Bruchteil seiner mehr als sieben Millionen Twitter-Follower ist, schwillt der Lärmpegel locker auf Bundesligaspiel-Niveau an, der Kreisch-Faktor geht Richtung Popkonzert. So was hatte Pelé nicht, sein verehrtes Vorbild, so was hat nicht einmal Lionel Messi, den er so bewundert, dass er ihm nach dem Confed Cup zum FC Barcelona folgen wird.

Neymar ist in diesen Tagen Quell der Freude und der Hoffnung für so ziemlich jede Schicht im Lande. Zumal ihm beim 3:0-Auftaktsieg der Seleção gegen Japan ein frühes Tor gelang, das in der Gesamtgeschichte für eine Fiktion zu unglaubwürdig wäre. 842 Minuten lang hatte er nicht mehr getroffen, die Nation sorgte sich, in den letzten Ligaspielen mit dem FC Santos hatten die Gegenspieler Blut geleckt und fingen an, ihn zu jagen. Und dann dieser Kunstschuss - mit dem hat er sich aus einer Krise katapultiert, die ihn seit Jahresbeginn zermürbte. Schuld war das Transfertheater, seit er beim ballon d'or, der Kür des Weltfußballers im Januar in Zürich, von den reichlich vertretenen Repräsentanten des FC Barcelona umgarnt worden war. Damals war auch ein verblasster Barça-Mythos da und soll ihm Avancen gemacht haben: Pep Guardiola, der nun beim FC Bayern das Training leitet. Neymar verrät, der Coach habe gefragt, ob er in Zukunft einmal unter seiner Regie spielen wolle; was er erwiderte, verrät Neymar nicht.

Aber mit Brasilianern hat es der FC Bayern nicht mehr so, die Münchner holten stattdessen Mario Götze, und in Barcelona erfüllen sie Neymar jeden Wunsch. Sogar den, dass seine sechs besten Kumpels, die parças (Partner - so der Slangbegriff der Jungen-Combo), alle drei Monate nach Barcelona eingeflogen werden. Auch solche Dinge sollen vertraglich fixiert worden sein, neben der Transfersumme von 57 Millionen Euro. Bei der Präsentation Neymars in Barcelona war das halbe Dutzend schon dabei - jene Kumpels, mit denen Neymar in seinem Geburtsort Praia Grande an der Küste São Paulos das Kicken lernte. Dort sind die Straßen abschüssig, eine Halbzeit spielt man bergab, die andere bergauf. Bergab spielen war schwieriger, sagt Neymar, wegen der harten Stopps aus vollem Lauf - heute eine seiner Spezialitäten.

Papa Neymar, der ein eher glückloser Zweitligakicker war, führt die Techniken des Juniors auf dieses Terrain zurück, die jähen Tempo- und Richtungswechsel. Dabei spielte der Junge nicht nur auf Asphalt. Im Elternhaus umdribbelte er Stühle, Tische und Sofas. Er schlief auf der Bettkante, denn im Bett lag der Ball.

Elfjährig geht Neymar zum FC Santos. Schon zwei Jahre später klopft Real Madrid an. Doch Santos lockt mit einem Vertrag - der aufgestockt wird, als Real 2007 erneut um den 15-Jährigen buhlt. 2010 führt Neymar Santos zur Paulista-Meisterschaft. Doch trotz massiver Fanproteste nimmt ihn Nationalcoach Dunga nicht zur WM nach Südafrika mit. Das ändert Dungas Nachfolger Mano Menezes: Neymar debütiert im August 2010 beim 2:0 gegen die USA. Jetzt ist es der FC Chelsea, der den Jungstar umwirbt, Santos hält nur noch mühsam dagegen, es braucht nun schon ein komplettes Marketing-Konzept, um das Salär zu stemmen. Neymar erhält persönliche Sponsoren, heute sind es zwölf. 2011 gewinnt er mit Santos die Copa Libertadores, Südamerikas Champions League. 2012 der dritte Titel mit Santos, das hat nur Pelé geschafft - doch im Olympia-Finale von London unterliegt er mit der Seleção dem alten Angstgegner, der auch an diesem Mittwoch in Fortaleza wartet: Mexiko.

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Für Neymar ist Angst kein Thema. Er hat sich gegen Japan freigeschossen, im Training scherzt er mit seinen Kumpels Marcelo und Lucas. Eng ist er auch mit Oscar, dem er vorm England-Testspiel im neuen Maracanã (2:2) das Trikot mit der Nummer 10 abluchste und stattdessen die 11 überließ. Trainer Scolari duldete das, er unterstützt Neymar bedingungslos, seit er die Seleção im Februar übernahm. Da steckte Neymar schon in der Krise, und Scolari panzerte ihn gegen den öffentlichen Druck mit einer Einsatz-Garantie. Der Trainerfuchs weiß, dass des Jungstars Künste auch ihn ruhiger arbeiten lassen: Neymar ist letzter Repräsentant des Jogo bonito, des schönen Spiels, das die Fans traditionell fordern - das aber im taktisch ausgereiften Spitzen- und Tempofußball nur noch mäßig Erfolg verspricht.

Zwischen den beiden herrscht längst ein Vater-Sohn-Verhältnis, Scolari betreibt die Umerziehung des Solokünstlers zum Teamplayer so subtil, dass ihm die Torflaute Neymars ebenso zu Nutzen war wie dessen Umstieg auf das Wunschtrikot: Die 10 steht für Verantwortung. Und Pelé trug sie, dessen Gestik Neymar gern kopiert. Wie einst O Rei, der König, haut er nach Torerfolgen im Sprung die Faust in die Luft. Wie der König kniete er nach dem letzten Spiel für Santos im Mittelkreis und hob die Zeigefinger gen Himmel.

Die Zahl der Neymars könnte noch anwachsen im Lauf des Confed Cups. Doch die Steilgassen von Praia Grande sind nun verwaist. Nicht nur die Freunde folgen nach Barcelona, die ganze Familie siedelt um. Mutter, Schwester, vielleicht auch das Telenovela-Sternchen Bruna Marquezine, seine Freundin. Und natürlich der Papa, der das Geschäft mit den Sponsoren managt und einen Handel mit Produkten rund um den Filius betreibt. Der hat übrigens "Neymar jr." über der heiligen 10 stehen. Ein netter Wink für den Papa.

© SZ vom 19.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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