Hoesch ist nicht mehr und die Kokerei Kaiserstuhl, die mal die modernste der Welt war, haben die Chinesen erst ab- und dann wieder daheim aufgebaut. Auf der Zeche Minister Stein im Norden der Stadt wird schon lange niemand mehr im Fahrkorb in die Tiefe gerüttelt, um die Kohle zu holen und das Dortmunder Bier wird von Firmen gebraut, die Oetker aus Bielefeld gehören. Dass eine dieser Brauereien, die in der Dortmunder Steigerstrasse ihren Sitz hat, jetzt Fanbier Schwarz und Gelb verkauft und vorne auf der Flasche die Spieler und den Trainer zeigt, ist eine nette Idee, eine Geschäftsidee. Man will ja dabei sein.
Im Kohlenpott und auch sonst hat sich die Welt in den letzten Jahrzehnten mächtig geändert, aber geblieben ist die Liebe zum Verein, der seit dem Sieg gegen Nürnberg zum siebten Mal Deutscher Meister ist.
Merkwürdigerweise, aber das kann auch mit dem Älterwerden zusammenhängen, ist die Liebe in den vergangenen Jahren immer größer geworden; es ist fast so, als ob man ein lebendes Wesen liebt. Die Wichtigkeit der Einstellung zu dem Verein ist noch größer geworden.
Gut fünfzig Jahre hält die Beziehung schon; der Anfang hat mit dem Großvater zu tun und dem Radio in der Küche mit der Reportage vom Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft am 24. Juni 1956: Borussia Dortmund gegen den Karlsruher SC. Das Spiel endete 4:2 für den BVB. Die Schlachtenbummler, das behauptete jedenfalls der Reporter, hätten Transparente gemalt, wie: "Man sagt es sich in Stadt und Wald, Borussia macht Karlsruhe kalt".
Heinrich Kwiatkowski, Wilhelm Burgsmüller, Herbert Sandmann, Elwin Schlebrowski, Max Michallek, Helmut Bracht, Wolfgang Peters, Alfred Preißler, Alfred Kelbassa, Alfred Niepieklo und Helmut Kapitulski hießen die Helden, und wer den Sieg auf einem Sitzplatz in der Kurve, Block 3, miterleben konnte, konnte später berichten, dass er fürs Ticket 5,50 Mark gezahlt hatte. Ein Jahr später wurde wieder die Meisterschaft gewonnen und als der BVB im Europapokal der Landesmeister spielte, lief die Mannschaft in goldfarbenen Flutlichttrikots der Firma Umbro auf. Die Erinnerung an die Farbe ist mit den Jahren noch goldener geworden.
Es war damals wirklich eine andere Zeit; das Durchschnittsalter der Mannschaft, die 1956 und 1957 Deutscher Meister wurde, lag bei etwa 29 Jahren. Alle Spieler arbeiteten noch nebenbei, mancher allerdings bei der Stadt, was nicht sehr anstrengend war.
Und doch hat diese alte Mannschaft eine Menge zu tun mit dem Team, das jetzt als jüngste Dortmunder Meistermannschaft aller Zeiten die Schale holte. Dass im Fußball nicht nur das ganz große Geld zählt, dass es noch Leidenschaft und auch Treue gibt (jedenfalls für den Augenblick und vielleicht dauert der noch ein bisschen) - das ist mehr als ein Anhänger sich heutzutage erhoffen darf. Man muss kein Fußballromantiker sein, um die Meistermannschaft 2011 zu bejubeln.
Dortmund in der Einzelkritik:Die coolen Jungs
Weidenfeller jagt Kahns Rekord, Hummels heimst den nächsten Scorerpunkt ein, Götze beweist sein erstaunliches Gefühl für Raum und Zeit und Dede schießt als Letzter aufs Tor. Die Meister-Borussen beim 2:0 gegen Nürnberg in der Einzelkritik.
Eine ganze Stadt ist zum Verein geworden. Die Dortmunder haben schon lange so ein Lächeln im Gesicht. Die Leidenschaft, mit der sie tagein tagaus über ihren Verein reden, kann sich in München oder Hamburg oder gar Wolfsburg niemand vorstellen.
Bundesliga: Borussia Dortmund:Staunen im Fußballland
Genervt von Mainz, gejagt vom FC Bayern, beinahe übertroffen von Schalke 04: Die Saison sollte eigentlich fürchterlich werden, aber bald schon rieb sich die Liga die Augen. Die famose Saison des Deutschen Meisters Borussia Dortmund.
Ein bisschen hat sich diese Gefühlsregung auf die ganze Republik übertragen. Wenn man diese Saison irgendwo auf einem Bahnhof oder Flughafen mit dem Borussen-Schal und der Mütze stand, kam immer jemand und sagte: "Ihr macht das." Natürlich gab es auch, besonders in München, die Bescheidwisser, die nimmermüde über Nervenflattern, Chancenwucher und Verunsicherung einer jungen Mannschaft redeten. Sie waren vermutlich ganz schön neidisch.
Man musste diesmal borniert oder herzlos sein, der Stadt und der Mannschaft nicht den Titel zu gönnen. Selbst einige Blaue, also die aus Herne-West, bei denen sich selbst die Alten nur noch ganz schwach an den Gewinn eines Meistertitels erinnern können, sind gekommen und haben gesagt: "Ich gönn' euch das. Aber wenn ihr den Titel nicht holt, hasse ich euch dafür." Das war die allerhöchste Anerkennung der Blauen.
Selbst der eigentlich nette Schalker Kollege im Haus, der das gelbe Büro bei der SZ "nur mit Kotztüte betritt", wie er immer wieder versichert, hat heimlich dem BVB die Daumen gedrückt. Dabei sagt er doch sonst immer nur "Doofmund".
Der Werbespruch "Echte Liebe" der großen Marke BVB, die es natürlich gibt, war diesmal wirklich echt. Sie haben gerackert, gespielt und der Augenblick, als Götze das Solo machte, um danach Dede zu ehren, war fast so schön wie das 3:1, das Jürgen Wegmann im Mai 1986 in der buchstäblich letzten Minute im Relegationsspiel gegen Fortuna Köln reingestochert hat.
Dass der BVB wieder da ist, wo er im Herzen vieler Anhänger immer war, hängt kurioserweise mit dem Scheitern jener Zocker zusammen, die vor Jahren vergeblich versucht haben, den Verein dahin zu bringen, wo die Bayern meist sind. Als "Scheiß Millionarios" wurden der BVB und seine Anhänger Mitte der neunziger Jahre verhöhnt und das Schlimmste war, dass mancher im Verein die Gesänge für eine Auszeichnung hielt. Bayern ist Bayern ist Hoeneß und der BVB wird untergehen, wenn er so sein will, wie die. Auch gibt es keinen zweiten Uli Hoeneß.
Bei der Meisterschaft vor neun Jahren, als der BVB am 34. Spieltag durch ein 2:1 gegen Werder Bremen noch einmal Meister wurde, schoss Geld noch einmal die Tore und bald nach dem Abschied der Zirkustruppe war es zappenduster. 2004 stand der größenwahnsinnig gewordene Verein vor der Pleite und dem Zwangsabstieg in die Kreisliga - und in diese Lage darf der BVB nie mehr kommen.
Jubel in Dortmund:Glatze Großkreutz
Borussia Dortmund ist zum siebten Mal Deutscher Meister: Da gibt es für die jubelnden Fans kein Halten mehr. Ein Verein im Glück und so manche Träne - in Bildern.
Warum diese neue Mannschaft, deren Lizenzspieler-Etat nur etwa ein Viertel des Etats von Bayern München beträgt, am Ende ganz oben steht, ist oft analysiert worden. Auf dem Platz stand ein Team; es sind Jungs, die brennen und rennen, die Charakter haben und die gelbe Wand hatte in diesem Jahr einen Sound wie noch nie. "Wir sind alle Dortmunder Jungs" ist ein alter Song, doch er klang diesmal ganz anders.
Zweifel an der Sache, der sich alle ergeben haben, schien diesmal fast allen fremd, auch wenn am Ende noch manchem bang wurde. Die Erlebnisse dieser Saison waren so intensiv wie ganz selten zuvor Erlebnisse waren.
Natürlich ist da der Trainer, dem sie glauben und der an sie glaubt: "Kloppo". Als Marcel Schmelzer sogar in der zweiten Mannschaft nur Auswechselspieler war, hat Klopp schon davon geredet, dass er "Schmelle" eines Tages zum Nationalspieler machen werde. Und als Barrios neu in Dortmund war und in zwei Freundschaftsspielen rasch sechs Tore machte, hat ihm Klopp bedeutet, Barrios müsse sich fix ändern. Er laufe ja gar nicht für die Mannschaft, er sichere nicht ab, störe nicht den Spielaufbau des Gegners. Barrios, einer der besten Knipser, die der Verein je hatte, hat verstanden.
Das Wort "authentisch" ist fast schon verbraucht, wenn es um Beschreibungen von Klopp und der Mannschaft geht, aber wenn man in die alten Wörterbücher schaut, stellt man fest, dass das Wort so schlecht auch nicht ist. Es wurde in der Kanzleisprache des 16. Jahrhunderts als "authenticus" verwendet, was "zuverlässig, verbürgt" hieß und die griechische Variante (authentikos) hatte etwa mit dem "Urheber, Anführer" zu tun, der "etwas mit eigener Hand vollbringt".
Dieses Team der Jungen, der Ehrlichen, der Echten, der Authentischen, schaffte einen Ertrag, der in keiner Vereinsbilanz vorkommt; einen Lust-Ertrag. Schon heute liefern diese Jungen Stoff für die Legenden, die später, in fünfzig Jahren oder so, vermutlich noch ausgeschmückt werden. Dass Spieler ihren Beratern verbieten, sie anderswo für Millionen anzubieten, ist ein Verstoß gegen die Gesetzmäßigkeiten des Betriebs, aber er wird sich hoffentlich lohnen. Wenn sie zusammenbleiben, können sie zusammen noch Großes erleben. Und sie werden ja wirklich so schlecht auch nicht bezahlt.
Die Lust am Traum aber, das zeigen die Dortmunder Erfahrungen, muss sich immer mit der Passion des klaren, harten Sehens verbinden, das immun macht gegen jederlei Betörung. Die aus dem Revier kennen die Minuten der Finsternis, aber sie wissen auch, dass man sogar im Bodenlosen noch Boden finden kann. Sie sind nicht naiv und doch immer ein bisschen romantisch. Echte Freunde eben.
Hans Leyendecker, Jahrgang 1949, Ressortleiter Investigative Recherche bei der Süddeutschen Zeitung, ist seit mehr als einem halben Jahrhundert Fan des BVB. Er hat in Dortmund gelebt und gearbeitet und ist Mitglied des Vereins.