Manchmal sind es kleine Sätze, die Größeres erahnen lassen. Der Leistungssportler Tarjei Bö jedenfalls sagte in diesen Tagen einen Satz, der eventuell Rückschlüsse auf den Menschen Tarjei Bö zulässt. "Ich kämpfe mit meinem Bruder um das gelbe Jersey", erklärte Bö. Er sagte nicht "gegen", sondern "mit".
Tarjei Bö ist Norweger, Biathlet von Beruf und einer der Besten, den es in dieser Disziplin je gab. Wer allerdings seinen Nachnamen googelt, der wird immer erst beim deutschen Wörterbuch und einem heftigen Windstoß landen - und alsbald bei ihm: Bei Johannes Thingnes Bö, auf Langlaufskiern ebenfalls schnell wie ein Windstoß, Bruder von Tarjei, fünf Jahre jünger und fünffacher Goldmedaillengewinner bei der bis dato letzten Biathlon-Weltmeisterschaft in Oberhof. Anders gesagt: Tarjei Bö wäre in Deutschland ein gefeierter Biathlet, in Norwegen ist Tarjei Bö vor allem der ältere, nicht ganz so erfolgreiche Bruder von Superman. So war das jedenfalls zuletzt.
Die Wettkämpfe der Skijäger im oberbayerischen Ruhpolding hinterließen nun Hinweise, dass sich die Verhältnisse in den Internetsuchmaschinen eventuell verschieben könnten. Das liegt einerseits daran, das Johannes Thingnes Bö, 30, offenbar keine Maschine, sondern ein Mensch ist. Und an der Tatsache, dass es sich bei Tarjei Bö, 35, zwar ebenfalls um einen Menschen handelt, allerdings um einen sehr ausdauernden.
Biathlon in Ruhpolding:Julia wer?
"Ich bin aufgeregter vorm Interview, als ich vor dem Rennen war": Eine 18-jährige Biathletin aus Ulm macht beim Weltcup in Ruhpolding mit einem beachtlichen Debüt auf sich aufmerksam.
Dem großen Bruder gelang beim Sprint am Freitag der dritte Platz, und weil der kleine Bruder nur auf Rang neun ins Ziel kam, rückt die Familie Bö im Gesamtklassement zusammen. 54 Punkte trennten die beiden zeitweise nur noch, Johannes Thingnes wird im Gelben Trikot nach Antholz ins Südtirol reisen, aber sein großer Bruder ist ihm so nahe wie lange nicht. Im Biathlon-Weltcup der Männer ist spätestens seit den Tagen von Ruhpolding ein Familienduell im Gang. Eines, das wohl die wenigsten Beobachter dieses Sports prophezeit hatten.
Es ist fast eine zweite Karriere (oder Tarrjere?), die sich am Sonntagnachmittag vor mehr als 20 000 Zuschauern in der Chiemgau-Arena skizzierte. Der große Bruder war ja schon Weltbester, als seinen Bruder noch niemand auf Google suchte. In der Saison 2010/2011, vor einem Biathlon-Zeitalter, ging er als jüngster Weltcup-Gesamtsieger in die Geschichtsbücher der Sportart ein. Er wurde Staffel-Olympiasieger und holte zwischen 2011 und 2013 sieben WM-Goldmedaillen, davon zwei im Einzel. Sein letzter großer Titel war indes der Massenstart-Sieg bei der WM vor elf Jahren in Nove Mesto. In den folgenden Jahren zählte der ältere Bö dann zwar stets zur Weltelite, die Spitzenergebnisse allerdings, die fuhr ein anderer ein.
"Um ehrlich zu sein: Es ist schwieriger, deine Mannschaftskameraden zu schlagen als die Welt."
Nach seinem dritten Platz im Sprint gab Tarjei Bö biografische Einblicke. "Es gibt nicht mehr so viele von damals, die immer noch Rennen machen", sagte er. "Vielleicht bin ich von den restlichen der Favorit." Ob er gedenke, nach elf Jahren wieder Weltmeister zu werden? Nun da im Februar abermals in Nove Mesto zu Weltmeisterschaften gebeten wird? "Es könnte eine schöne Geschichte werden", so Bö. "Ich bin stark genug, dass ich um die Medaillen kämpfe." Eine Medaille sei "das Ziel, mindestens".
Für Tarjei Bö sind das fast schon forsche Töne. Er steht, so muss man es sagen, seit vielen Jahren im Schatten seines Bruders, der vor allem in der vergangenen Saison fast alles gewann, was es zu gewinnen gab. Ist dieser Mann tatsächlich schlagbar, wenn es darauf ankommt? Tarjei Bö wäre wohl nicht er selbst, würde er nicht sogleich relativieren. "Für mich ist Johannes die klare Nummer eins, weil er so überragend war die letzten Jahre", erzählt er. "Jetzt nach all den Wochen glaube ich aber, dass es wahr ist, dass ich fast auf seinem Level bin."
Fast - das zeigte sich im Finale von Ruhpolding. Im Verfolgungsrennen der Männer am Sonntagnachmittag lag der große Bruder auf Siegkurs, dann verfehlte er im abschließenden Stehendschießen zwei Scheiben und fiel auf Rang sieben zurück. Der kleine Bruder machte es besser, er räumte fast alles ab, verbesserte sich noch auf den dritten Rang und vergrößerte den Abstand im Familienduell wieder um einige Pünktchen.
Das Rennen vom Sonntag war eines der knappsten dieser Saison, am Bild auf dem Tableau allerdings änderte das wenig: Drei norwegische Männer standen am Ende vor allen anderen, es gewann Johannes Dale-Skjevdal vor Vetle Sjastad Christiansen. Justus Strelow kam - wie zuvor im Sprint - als bester Deutscher auf Rang fünf hinter dem Franzosen Emilien Jacquelin ins Ziel. Tarjei Bö landete am Ende auch noch hinter dem Italiener Tommaso Giacomel. Und trotzdem hatte er irgendwie recht mit einer Feststellung, die er vor dem Rennen zu Protokoll gegeben hatte.
"Um ehrlich zu sein: Es ist schwieriger, deine Mannschaftskameraden zu schlagen als die Welt." Im Gesamtweltcup führen nun sechs Norweger, der Zweite - Tarjei Bö - liegt nun bei 593 Punkten und damit 88 Zähler hinter seinem kleinen Bruder. Es sei "ein neues Gefühl für mich, mit Johannes auf so engem Niveau zu kämpfen", sagte er noch. Wieder sagte er: "mit".