Sieger der Australian Open:Djokovics wilde Fäuste und Tränen

Lesezeit: 5 min

Alles muss raus: Novak Djokovic jubelt mit Mutter, Bruder und seinem Team. (Foto: Asanka Brendon Ratnayake/AP)

Der Serbe beschließt "das schwierigste Turnier meiner Karriere" mit seinem zehnten Triumph in Melbourne und feiert höchst emotional. Gegen Stefanos Tsitsipas zeigt er, wie gut er Matchpläne zerstören kann.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Es war 22.40 Uhr, als es zum letzten Mal atemraubend still wurde. 15 000 Menschen auf einen Schlag zum Schweigen zu bringen, ist etwas, das eigentlich kaum möglich erscheint, aber der Tennissport, der bringt dieses Kunststück fertig. Es stand 6:3, 7:6 (4), 6:6 und 6:3 im Tie-Break, Novak Djokovic hatte drei Matchbälle im Finale der Australian Open gegen den Griechen Stefanos Tsitsipas, 24.

Ein Jahr, nachdem ihn Australien aus dem Land abgeschoben hatte, weil er nicht gegen Corona geimpft war, wie es die damalige Rechtslage bei einer Einreise vorsah, konnte er sich den verpassten Titel zurückholen. Er konnte wieder Weltranglisten-Erster werden. Vor allem konnte Djokovic zeigen, dass er sich nicht hat brechen lassen von dem Drama damals, so sah er das selbst, und, ja, dieses Kapitel hatte ihm schon eine zusätzliche Motivation gegeben, das hat er in Melbourne klar zu verstehen gegeben.

SZ PlusMeinungAustralian Open
:Djokovic zelebriert seine Opferrolle

Seit dem Start der Australian Open klagt Novak Djokovic permanent. Er spielt mit der Öffentlichkeit - und findet genau darin seinen Antrieb.

Kommentar von Gerald Kleffmann

Aufschlag Tsitsipas also, Djokovic schnaufte durch. Sein Rückhand-Return. Im Aus. Wieder Aufschlag Tsitsipas: Vorhandpunkt für den Griechen. Nun war Djokovic dran. Ein Ballwechsel, es ging hin und her, dann flog die gelbe Filzkugel hinter seine Grundlinie. 6:4, 7:6 (4), 7:6 (5). Es wurde binnen einer Millisekunde, so schnell konnte man sich nicht die Ohren zuhalten, so laut wie in einem Belgrader Fußballstadion nach einem Siegtor in der 90. Minute. Alle standen. Djokovic? Er fiel nicht auf den Rücken, wie es fast immer die Sieger machen. Er blieb stehen. Zeigte mit dem Zeigefinger auf seine Schläfe. Auf seinen Bauch. Mit Verstand und Leidenschaft, das sollte das heißen, habe er gesiegt.

Um weiteren Ärger zu vermeiden, bleibt Djokovics Vater auch beim Finale fern

Kurz darauf landete er in seiner Box, Mutter Dijana, Trainer Goran Ivanisevic, viele andere umarmten ihn. Nur Vater Srdjan fehlte. Er hatte überraschend auch auf diese Partie verzichtet. Nach dem Wirbel um sein Auftauchen in einem Video vor wenigen Tagen mit Putin-nahen russischen Fans hatte er bereits das Halbfinale nicht besucht, um die Lage zu beruhigen. Sein Sohn hatte ihn verteidigt und gesagt, Srdjan hätte nicht gewusst, um wen es sich handelt, mit wem er da posiert hatte. So viel war vorgefallen, dass es verständlich war, als Djokovic auf der Stufe stand und wie wild die Fäuste in die Höhe reckte. Danach sackte er in der Box heulend auf den Boden und als er aufstand, sank er in die Arme seiner Mutter.

Hatte auf alles eine Antwort: Djokovic ergattert einen weiteren schwer erreichbaren Ball. (Foto: Hannah Mckay/Reuters)

Rekorde zu jagen, "Geschichte zu machen", das treibe ihn an, auch das hatte Djokovic in Melbourne zugegeben, so gesehen ist er mal wieder einen mächtigen Schritt weiter. Er hat in seinem zehnten Finale bei den Australian Open den zehnten Titel errungen. Er hat nun 22 Grand-Slam-Pokale gewonnen und damit Rafael Nadal eingeholt, der 2022 hier triumphiert hatte. Der Spanier schied diesmal früh mit einer Verletzung aus.

Bei der Siegerehrung führte Djokovic zunächst aus, dass er aus einem kleinen Land komme, er appellierte, dass Kinder, die ihn und Tsitsipas gesehen hätten, sich eines merken sollten: "Träumt groß!" Über sich sagte er dann: "Das ist wahrscheinlich der größte Sieg in meinem Leben, angesichts der Umstände." Ken Rosewall, 88, eine der australischen Tennislegenden, der ihm den Norman Brooks Challenge Cup überreicht hatte, klatschte auch. "Das spricht für sich, was du erreicht hast", zollte Tsitsipas seinen Respekt. "Das ist eine unglaubliche Reise von dir." Er kam zu dem Urteil: "Du bist einer der größten Spieler unseres Sports." Jemand aus der Menge rief: "Er ist der Größte." Da lachte Tsitsipas, der das gehört hatte. "Er ist der Größte, der je einen Tennisschläger in der Hand gehalten hat", korrigiert er sich. Heiteres Gelächter im Stadion.

Nicht frei von Zweifeln: Im zweiten Satz unterlaufen Novak Djokovic ungewohnte Fehler - aber er findet dennoch einen Weg zu gewinnen. (Foto: Quinn Rooney/Getty Images)

Draußen vor der Rod Laver Arena und im gesamten Areal des Melbourne Parks hatte schon seit dem frühen Nachmittag eine ausgelassene Stimmung wie bei einem Open-Air-Festival geherrscht. Einen neuen Zuschauerrekord erreichten die Australian Open insgesamt jedoch nicht. Man wollte die Zahl 900 000 knacken, das klappte mit 838 192 Besuchern nicht ganz, wie Turnierdirektor Craig Tiley vermeldete. Unmittelbar vor Beginn des Finales hatte es leicht zu regnen begonnen, aber das Dach, das bei den Finalpartien immer erst kurz vor dem Auftreten der beiden Hauptdarsteller geöffnet wird, wurde dann zurückgefahren. Es blieb trocken.

Als Tsitsipas das Stadion betrat, brandete Jubel auf, dann kam Djokovic - und es wurde noch viel, viel lauter. Es herrschte bereits jetzt eine Atmosphäre, als würde es 6:6 im dritten Satz stehen. Bei der Vorstellung ertönten die ersten "Novak, Novak"-Rufe, und kaum lief das Match, riefen Anhänger nach jedem Ballwechsel etwas hinunter auf den Platz. Die Nervosität in einem Finalstadion hat stets etwas Eigenes, aber hier und heute war die Anspannung besonders zu spüren. Beide standen sich zum zweiten Mal in einem Grand-Slam-Endspiel gegenüber. In Paris, bei den French Open 2021, hatte Tsitsipas gegen Djokovic mit 2:0 Sätzen geführt, er verlor trotzdem ohne reelle Chance. Die vergangenen neun Duelle hatte allesamt der Serbe gewonnen. Es war klar, wer auch diesmal der Favorit war.

Djokovic lässt alles, was Tsitsipas unternimmt, abperlen. Und als er im zweiten Satz fahrig wird, findet der Serbe trotzdem einen Weg zu gewinnen

Tommy Paul, der US-Profi, der im Halbfinale in Melbourne an Djokovic gescheitert war, hatte am Freitag erst anschaulich berichtet, wie sich das anfühlt, gegen diesen übermächtigen Gegner zu agieren. Djokovic zerstöre jeden Matchplan. Er wollte Serve-and-Volley spielen, aufschlagen und nach vorne rennen, doch das ließ Djokovic nicht zu. Er wollte Stopps wagen - Djokovic bot ihm keine Gelegenheit dazu. Er wollte Slice spielen, Schläge mit Unterschnitt - Djokovic unterband das. Wie auch immer der Matchplan von Tsitsipas aussah: Ihm erging es anfangs ähnlich.

Djokovic ließ alles, was Tsitsipas spielerisch unternahm, zunächst abperlen. Er konterte harte Grundlinienschläge, als sei er eine Ballmaschine, vor allem aber ist Djokovic bei diesem Turnier spielerisch ein modifizierter Djokovic. Aus dem Counterpuncher, der andere mit Defensivkunst zermürbt, ist ein aktiver Dominator geworden. Beispielhaft war Satz eins: Er verteilte mit seinen Topspin-Schlägen die Bälle in die Ecken. Sobald Tsitsipas mal kein freier Punkt gelang in Form eines Asses oder Aufschlagwinners und er in einen längeren Ballwechsel musste, strampelte er sich ab. Djokovic schenkte ihm keinen verdammten Punkt. Ein Break zum 3:1 reichte ihm im ersten Satz, 6:3.

Tsitsipas landet Wirkungstreffer - aber selbst das bringt Djokovic nicht aus der Fassung

Für Tsitsipas ging es nun darum, diesen traumwandlerischen Modus, mit dem Djokovic sein Spiel abspulte, zu durchbrechen, irgendwie in den Kopf von ihm zu gelangen. Er streute endlich zwei Stopps ein, die sofort die Punkte brachten. Nach einer durchgezogenen Rückhand, die die Linie entlang einschlug, wurden die griechischen Unterstützer laut, "lucky Souvlaki", rief eine Frau hysterisch wieder und wieder. Das Duell wurde offener, enger, es gab sogar leichtere Fehler von Djokovic, der bei 3:3 auf Trainer Goran Ivanisevic einredete, er haderte und klagte. Tsitsipas hatte Wirkungstreffer erzielt.

Novak Djokovic gewann 2023 insgesamt drei Grand-Slam-Titel, hier in Melbourne, und beendete das Jahr als Weltranglistenerster. (Foto: PAUL CROCK/AFP)

Bei 5:4 hatte der Grieche gar einen Satzball, doch Djokovic wehrte diesen mutig mit einer geschleuderten Vorhand ab. Es folgte der Tie-Break, in dem die Qualität abfiel. 4:1 Djokovic, 4:4, 7:4. Selbst wenn Djokovic strauchelt, ergattert er sich den Satz. Das Spiel der Wirkungstreffer beherrscht Djokovic, der bis zum Achtelfinale am Oberschenkel verletzt gewesen war, noch besser.

Für einen Moment schien es, als zeigte sich Tsitsipas wirklich unbeeindruckt, er schaffte umgehend das Break zum 1:0. Nur: Djokovic holte sich im Gegenzug das verlorene Aufschlagspiel sofort zurück. Es war wie beim Armdrücken. War Tsitsipas am Hebel, drückte Djokovic fester zu. "Ich bin bereit zu kämpfen. Wenn es fünf Sätze sind, dann sind es fünf Sätze; wenn es fünf Stunden sind, dann sind es fünf Stunden. Ich kann es kaum erwarten", das hatte Djokovic vorher gesagt. Gegner wissen um seine Einstellung. Das macht ein Glauben an den Erfolg noch schwieriger. Und so liefen die Bemühungen von Tsitsipas ins Leere. Er hatte ein vorzügliches Turnier gespielt, aber gegen diesen Djokovic konnte auch er nichts ausrichten.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Melbourne-Siegerin Aryna Sabalenka
:Die Löwin kontrolliert ihre unbändige Energie

Der Weg zum Titel in Australien war kompliziert für Aryna Sabalenka. Ihr Trainer wollte sie nicht mehr trainieren, sie trennte sich von ihrem Psychologen - und lernte: Sie muss ihre Probleme selbst lösen.

Von Gerald Kleffmann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: