Aufstieg von Darmstadt 98:Auferstehung in einer Explosion des Glücks

Lesezeit: 4 min

Wilder, unbändiger Jubel: Darmstadt 98 feiert den Aufstieg. (Foto: Bongarts/Getty Images)

Nachspielzeit, Tor, Pfosten, Aus: Nach einem größtmöglichen Drama in der Relegation kehrt Darmstadt 98 nach 21 Jahren in die zweite Fußball-Bundesliga zurück und steigt in den "Olymp der Verrückten" auf. Die Debatte um das marode Stadion am Böllenfalltor wird nun lauter werden.

Von Thomas Hummel

Als das Spiel tatsächlich beendet war, sprintete eine Meute Männer über den Rasen, als hätten sie zum ersten Mal seit 21 Jahren Wasser gesehen. Es muss, zumindest außerhalb Jamaika, der schnellste kollektive Sprint der Fußballgeschichte gewesen sein. Die Anspannung, das Adrenalin, die Aufregung der letzten Minuten, ja Sekunden, sie entlud sich nach diesem einem Pfiff von Schiedsrichter Jochen Drees in einer Explosion der Glückseligkeit.

Spieler, Ersatzspieler, Betreuer, Trainer Dirk Schuster, vermutlich auch der Zeugwart und der Pressesprecher - ihre Körper flogen über Rasen, die Arme über den Köpfen, die Gesichter wie im Rausch verzerrt, sie rumpelten aneinander und übereinander. Sie landeten drüben in der Ecke, wo auf den Tribünen die Leute gerade übereinander herfielen.

Alle, die irgendetwas mit Darmstadt 98 zu tun haben, erlebten gerade das selbst ernannte "Weltwunder". Nach dem 1:3 im Hinspiel der Relegation steigt der Sportverein durch ein 4:2 nach Verlängerung bei Arminia Bielefeld auf. Nach 21 Jahren kehrt der Klub aus Südhessen erstmals in die zweite Fußball-Bundesliga zurück. Doch das sind nur die Fakten, die nicht diesen Abend in Bielefeld beschreiben können.

Ein Jahr hatte der Fußballgott an dieser Geschichte gearbeitet, und er ließ es sich nicht nehmen, sie mit dem größtmöglichen Drama enden zu lassen.

Darmstadt war, nach allem was man über K.-o.-Duelle weiß, recht aussichtslos nach Ostwestfalen gereist. Doch dann spielte diese Mannschaft voller Tatendrang, Mut und Zuversicht. Sie überrannte den verdutzten Zweitligisten fast und hätte schon während der 90 Minuten die nötigen vier Tore erzielen müssen. Es wurden nur die drei von Dominik Stroh-Engel (23.), Hanno Behrens (51.) und Jerome Gondorf (79.), weil Bielefelds Torwart ein paar Male toll reagierte und zweimal jemand auf der Linie rettete. Und weil Felix Burmeister (53.) einen von zwei lichten Momenten hatte für die Arminia, ging es in die Verlängerung.

Den zweiten lichten Moment boten die Bielefelder den 26.000 Zuschauern im Stadion in der 110. Minute. Als Kacper Przybylko das 2:3 erzielte, schien die Sache für Darmstadt gelaufen zu sein. Die sonst eher nüchternen Ostwestfalen auf der Tribüne hüpften und sangen, dass das ehemalige Alm-Stadion wackelte. Bis Elton da Costa schoss.

Die Darmstädter wollten nicht aufgeben, sie wollten einfach nicht aufgeben. Nachdem der vierte Schiedsrichter angezeigt hatte, dass es nur noch zwei Minuten Nachspielzeit gebe, bolzten sie zum 122. Mal den Ball hoch nach vorne, hier ein Kopfball, dort noch einer und dann fiel die Kugel da Costa vor die Füße. Abgefälscht vom Rücken eines Bielefelders, flog der Ball ins Tor. Schon da gab es kein Halten mehr. Und doch hätten sie ihren Jubel fast noch bereut.

In ihrer Verzweiflung versuchten es auch die Bielefelder noch einmal, schlugen den Ball nach vorne. Arne Feick köpfelte den Ball an den Pfosten, den Nachschuss blockte ein Darmstädter auf der Linie mit dem Körper - es war nicht auszuhalten.

Vor allem nicht für Arminia Bielefeld. Das Dumme an diesem Spiel war ja, dass ziemlich viel Geld dran hing. Der Unterschied zwischen der zweiten und dritten Liga ist aufgrund von Fernsehgeldern und Sponsoreneinnahmen enorm. Wie es in dem bereits mit 25 Millionen Euro verschuldeten Verein weitergeht, weiß niemand. Erst einmal weinten die Zuschauer auf den Tribünen, denn auch bei ihnen musste diese Anspannung, das Adrenalin ja irgendwie raus. Sie gingen danach stumm nach Hause, was in diesen Tagen des Fußballs auch nicht selbstverständlich ist.

Darmstadt hingegen erlebte eine laute Nacht. Am Karolinenplatz und rund um den Cityring sollen es 20 000 gewesen sein, die die Wiederauferstehung ihres Klubs feierten.

Darmstadt 98, der Verein mit der Lilie im Wappen, gehört zu den sogenannten Traditionsklubs, die irgendwann in der Versenkung verschwunden sind. Einige Jahre in der vierten Liga hat der Verein erlebt, 2008 einen Insolvenzantrag gestellt, mit Hilfsaktionen der Stadt und der Fans wurde er gerettet. Vor einem Jahr war der Klub mal wieder in die Viertklassigkeit verabschiedet worden. Bis er die Nachricht erhielt, dass der Nachbar Kickers Offenbach die Lizenz für Liga drei nicht erhalte. Das war der Beginn dieser göttlichen Fußballgeschichte.

Dirk Schuster, der Trainer, erhielt die Nachricht damals am Strand in Thailand auf seinem Handy. Er hat anschließend eine Gruppe Gescheiterter geformt. Viele Profis mit Talent, die sich in ihrer Kariere verrannt hatten. Die Zusammenarbeit des sehr ambitionierten aber im Umgang mit den Spielern lockeren Trainers mit seiner Mannschaft gedieh bis zu Platz drei der dritten Liga.

Im Nachhinein kann allerdings niemand Schusters Darmstädtern Glück unterstellen. Schon nach dem verpatzten Hinspiel gegen Bielefeld hatte Schuster, ein ehemaliger Bundesliga-Kämpfer beim Karlsruher SC und 1. FC Köln, erklärt: "Man sollte uns erst abschreiben, wenn wir unter der Dusche sind." Nach dem Drama in Bielefeld stammelte Mittelfeldspieler Marco Sailer: "Heute sind wir aufgestiegen in den Olymp der Verrückten und Bekloppten. Dass wir hierher fahren und vier Tore schießen, das hätte niemand gedacht. Außer wir selber."

Nun erhält die zweite Liga neben den Neuankömmlingen aus Heidenheim und dem Brauseklub aus Leipzig einen lila Tupfen Tradition. Die Fußball-Romantiker freuen sich auf das Auswärtsspiel im Stadion am Böllenfalltor, einem Kasten aus den Tagen, als der Sport noch weit entfernt war von Logen und Liveübertragungen aus der dritten Liga.

Von den noch genehmigten 16.300 Plätzen sind die allermeisten unüberdachte Stehplätze, die Bausubstanz ist marode. Seit einiger Zeit debattiert die Politik, ob sie sich an der Sanierung des Stadions beteiligen soll. Derzeit fehlt noch die Zusage des Landes Hessen, dann soll die "Darmstädter Sportstätten GmbH & Co. KG" den Umbau beginnen.

"Wir haben die Aufgabe, unser altes Fahrrad so aufzupäppeln, dass wir da durchkommen", sagte Klubpräsident Rüdiger Fritsch nach dem Drama in Bielefeld. Seine Haare und sein Hemd klebten am Körper, sein Jackett war völlig durchnässt von Bierduschen. Der Jurist sah aus wie nach der wildesten Party seines Lebens. Ersatzkleidung hatte er für die Rückreise über 375 Kilometer nicht dabei. Wer glaubt schon ernsthaft an Wunder.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: