Weltrekord vor 60 Jahren:Schneller als seine Zeit

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Eine Reaktionszeit von einer Zehntelsekunde: Armin Hary kam schnell aus den Blöcken - zu schnell für manche Referees. (Foto: Hans-Ueli Bloechliger/dpa)

10,0 Sekunden im Züricher Letzigrund: Den deutschen Sprinter Armin Hary konnten weder Funktionäre noch Gegner aufhalten. Das verdeutlicht die Geschichte seines 100-Meter-Weltrekords vor 60 Jahren.

Von Joachim Mölter

Die Bilder aus jener Zeit sind schwarz-weiß und grobkörnig und aus einer großen Entfernung aufgenommen, und wenn man sie in Normalgeschwindigkeit ablaufen lässt, versteht man die Menschen schon, die damals "Fehlstart!" schrien. So schnell wie Armin Hary aus den Blöcken geschossen war, die damals noch mit langen Nägeln in die Aschenbahn gehämmert wurden, so flugs wie er drei, vier, fünf Meter und mehr Abstand gewonnen hatte zu seinen Verfolgern, konnte das ja nicht mit regelgerechten Dingen zugegangen sein. Und dann auch noch die Zeit, die die Kampfrichter gestoppt hatten: 10,0 Sekunden! Das wäre ja ein neuer 100-Meter-Weltrekord, und das war doch ganz und gar unmöglich, oder? Das Schiedsgericht im Züricher Letzigrundstadion erklärte das Rennen kurzerhand für ungültig.

Die "Revolution im Weltsprint", wie es Harys Biograf Knut Teske später formulierte, war damit freilich nur kurz aufgeschoben. Armin Hary rannte die 100 Meter eine halbe Stunde später einfach noch einmal, und er rannte sie noch einmal in 10,0 Sekunden - diesmal gab es nichts auszusetzen: Der prestigeträchtige Weltrekord über 100 Meter gehörte dem 23-Jährigen aus dem Saarland, der erst zwei Jahre zuvor "aus dem Nichts zum Europameister aufgestiegenen Sprintsensation", wie die SZ schrieb. So schnell wie er die Laufbahn gestürmt hatte, so schnell war Hary dann auch wieder weg: Nach drei turbulenten Jahren und dem Olympiasieg in Rom als Krönung beendete er seine kometenhafte Karriere.

Armin Hary im Jahr 2017: Er zeigt die Spikes, die er 1960 bei den Olympischen Spielen in Rom getragen hat. (Foto: dpa)

An diesem Sonntag jährt sich Armin Harys Weltrekordlauf zum 60. Mal, es ist bis heute eine der spektakulärsten Leistungen in der deutschen Leichtathletik, ein bahnbrechendes Ereignis zu einer mythischen Grenze des Sprints, aber damals wurde das Ganze eher skeptisch beäugt. "Die Züricher Rekord-Vorstellung war nicht frei von Verdruss und Komplikationen", schrieb der Spiegel seinerzeit, "jenen unerfreulichen Umständen, die von jeher die Karriere des wegen seines raketenartigen Startvermögens von allen Gegnern gefürchteten 100-Meter-Europameisters kennzeichneten".

Die Sportverwalter verlangten Zucht und Ordnung - Hary gab Widerworte

Verdruss und Komplikationen - das kann man wohl sagen über das Verhältnis von Hary und den Funktionären des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Von denen hatten viele "ihre Sozialisation in den späten, den braunen 30-er Jahren erfahren", schrieb der Biograf Teske, im sie waren gedrillt auf Zucht, Ordnung und Gehorsam. Armin Hary hingegen war aufmüpfig und eigenwillig, er gab Widerworte, und er hatte die Hierarchien schon aufgebrochen, als er es wagte, bei der EM 1958 in Stockholm dem favorisierten Publikumsliebling Manfred Germar aus Köln den 100-Meter-Sieg zu stibitzen.

Armin Hary erhält die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Rom 1960. (Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)

Hary hatte sich in jenem Sommer bereits auf 10,2 Sekunden gesteigert und damit den Europarekord eingestellt; wenige Tage nach dem EM-Gewinn legte er dann in Friedrichshafen die 100 Meter zum ersten Mal in 10,0 Sekunden zurück. Die DLV-Funktionäre verhinderten jedoch, dass die Zeit als Rekord anerkannt wurde. Sie nahmen noch mal genau Maß und stellten fest: Die Bahn hatte ein unzulässiges Gefälle - 0,1 Promille über dem erlaubten Wert! Auf 100 Meter gerechnet entsprach das einer Neigung von gerade mal einem Zentimeter.

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Es war nicht Harys letzter Ärger über die Funktionäre. Nach der wegen Verletzungen und anhaltenden Streitigkeiten verkorksten Saison 1959, in der er zum Trainieren und Nachdenken in die USA geflüchtet war, hatte er sich im Olympiajahr 1960 wieder in Form gebracht, er wollte sie in Zürich testen - doch der DLV wollte, dass er sich für die Spiele in Rom schont. Erst kurz bevor der letzte Flieger von Frankfurt aus in die Schweiz abhob, gab der Verband den Start frei. Hary hetzte ins Stadion.

Zum dritten Mal 10,0 Sekunden - zum ersten Mal anerkannt

Doch auch dort kam er nicht zur Ruhe, erst das vermeintliche Rekordrennen, dann die Annullierung, wegen der er wieder mit den Funktionären stritt, den Schweizer diesmal. Die Entscheidung über einen Fehlstart stand tatsächlich nicht dem Schiedsgericht zu, nur dem Starter - und der hatte Hary ja laufen lassen. Nach Intervention des regelfesten deutschen Sportjournalisten Gustav Schwenk wurde ein neues Rennen angesetzt - Hary musste bloß noch zwei Mitläufer auftreiben, damit es den Regeln entsprach. Der Schweizer Meister Heinz Müller erklärte sich bereit, der Kölner Jürgen Schüttler auch. Es konnte losgehen, und Armin Hary rannte zum dritten Mal in seiner Karriere die 100 Meter in 10,0 Sekunden. Und zum ersten Mal wurden sie anerkannt.

Schweizer Präzisionsuhrmacher haben die Filme von den beiden Züricher Rennen später noch mal mit modernsten Methoden analysiert - sie konnten keinen Fehlstart erkennen. Wenn man mittels der Zeitlupe genau hinschaut, sieht man, dass Hary noch im Block ist, als schon Rauch aus der Starterpistole kommt. Bei Untersuchungen an der Freiburger Uni war ihm außerdem eine außerordentliche Reaktionsschnelligkeit bescheinigt worden, weniger als eine Zehntelsekunde. Heutzutage käme er damit nicht weit, er würde sofort disqualifiziert: Die moderne Startautomatik meldet einen Fehlstart, sobald jemand früher als eine Zehntelsekunde nach dem Startschuss aus dem Block schnellt.

Hary links neben dem legendären US-Sprinter Jesse Owens. (Foto: Bloechinger/AFP)

Mit seiner antiautoritären Haltung und seinem Sprinttalent war Armin Hary jedenfalls seiner Zeit voraus, um fast ein Jahrzehnt. 1968 rebellierten die Jugendlichen in Deutschland massenweise gegen die Altvorderen, gegen den "Muff von tausend Jahren", 1968 legte auch der erste Sprinter die 100 Meter offiziell in weniger als zehn Sekunden zurück und brach damit seinen Weltrekord: Der Amerikaner Jim Hines wurde damals mit 9,9 Sekunden gestoppt - auf einer leistungsfördernden Kunststoffbahn. Auf der Züricher Aschenbahn waren 1960 vier Stoppuhren im Einsatz gewesen, bei Harys anerkanntem Weltrekord zeigten drei 10,0 an, der vierte Zeitnehmer kam auf 10,1. Im fälschlicherweise annullierten Rennen blieben zwei Uhren bei 10,0 stehen, eine bei 9,9 - und eine sogar bei 9,8, wie der betreffende Kampfrichter Jahre später zugab. An jenem Abend des 21. Juni 1960 habe er das den Kollegen aber nicht gesagt, erklärte er: Er habe seinen Augen damals nicht getraut.

© SZ vom 20.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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