Düsseldorf (dpa) - Die oft gewalttätige und grausame Erziehungspraxis in vielen Kinderkurheimen nach dem Zweiten Weltkrieg legt einer Studie zufolge eine Kontinuität zum nationalsozialistischen Regime nahe.
Das nordrhein-westfälische Sozial- und Gesundheitsministerium veröffentlichte eine Studie zur Aufarbeitung des Leids der sogenannten „Verschickungskinder“ nach 1945 im Westen Deutschlands. Demnach wurden allein in NRW zwischen 1949 und 1990 mehr als 2,1 Millionen Kurkinder wochenlang in Kur- oder Erholungsheime oft an Nord- oder Ostsee verschickt. Es sind die ersten wissenschaftlich belastbaren Zahlen für NRW. Für alle Bundesländer der damaligen Bundesrepublik wird die Zahl der in Kuren verschickten Kinder in diesem Zeitraum nach unterschiedlichen Berechnungen auf sechs bis acht Millionen oder sogar auf zwölf Millionen geschätzt.
Die Studie lege offen, dass die Organisation der Erholungs- und Heilkuren für Kinder in der Weimar Republik aufgebaut und in der NS-Zeit „an die Ideologie des Regimes angeglichen wurde“, teilte das NRW-Ministerium dazu mit. „Diese Ausrichtung hat in den Folgejahren nachgewirkt, so dass mentale und personelle Kontinuitäten fortbestanden.“
Für viele Kinder wurde der Aufenthalt im Kurheim zu einer Tortur, die sie bis ins Erwachsenenalter traumatisch belastete. Die Zeitzeugenberichte über Gewalt, Schläge, Essens- und Schlafentzug, Isolierung und Demütigung werden in der Studie grundsätzlich „als in hohem Maße glaubwürdig“ bezeichnet. Allein das Internetportal verschickungsheime.de verzeichne inzwischen fast 2000 solcher Berichte. Bereits eine kursorische Lektüre der Berichte lasse eine „häufig rigorose, nicht selten auch grausame Erziehungs- und Verwahrungspraxis während des Kuraufenthalts erkennen“.
Die Kurkinder wurden von der Außenwelt abgeschnitten, hatten Kontaktverbot zu den Eltern, die Post wurde zensiert. Lieblosigkeit, emotionale Vernachlässigung vor allem kleiner Kinder, körperliche Züchtigung und vor allem der Essenszwang habe für die betroffenen Kinder „eine schwere Traumatisierung“ bedeutet, heißt es weiter.
In den 60er und 70er Jahren sei die Kinderkur „eine Erfahrung vieler“ gewesen, heißt es in der von Professor Marc von Miquel, Leiter der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger in Bochum, erstellten Studie. „In der kollektiven Erinnerung der betroffenen Jahrgänge ist auch präsent, dass nicht wenige mit ihrer damaligen Kur negative Erlebnisse verbanden. Heimweh, autoritärer Erziehungsstil, stupide Freizeitgestaltung und miserables Essen sind typische Motive, wenn unter den zwischen 1950 und 1970 Geborenen die Rede auf die eigene Kurerfahrung kommt.“
Die Frage der NS-Kontinuität sei in der Studie nur an Rande gestreift worden und sollte weiter erforscht werden, sagte Miguel der Deutschen Presse-Agentur. Die Kontinuitäten beträfen aber Anschauungen und auch Personen. So gebe es „brisante Einzelfälle“, etwa den Fall des einstigen Leiters der hessischen Landeskinderheilstätte Mammolshöhe, Werner Catel. Er war einer der Haupttäter der NS-„Kinder-Euthanasie“ und erprobte 1947 in Mammolshöhe nicht zugelassene Medikamente, bei denen mindestens vier Kinder starben. Auch in anderen Kinderkurheimen seien Medikamente erprobt und Todesfälle dokumentiert worden.
Miguels Basisstudie „Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945“ bereitet bisher bekannte Fakten auf und empfiehlt weitere Forschungen etwa zu den Medikamentenversuchen in Heimen bis in die 1960er und 1970er Jahre sowie auch zur oft zweifelhaften Rolle von Kinderärzten bei der massenhaften Verschickung von Kindern. Zahlreiche Zeitzeugen berichteten über Tees und Tabletten, die ihnen in der Kur verabreicht wurden, um sie ruhig zu stellen.
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