Dresden (dpa) - Leistungsdruck, Versagensängste, Konsumterror: Manche Kinder und Jugendliche zeigen früh psychische Auffälligkeiten und brauchen eine Therapie. Manchmal sind die Eltern das eigentliche Problem. Professor Veit Roessner im Interview über die Ursachen.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie sieht sich mit immer jüngeren Patienten konfrontiert. Inzwischen werden selbst Dreijährige behandelt, weil sie Störungen im sozialen Verhalten oder bei Emotionen offenbaren. Im Universitätsklinikum Dresden werden betroffene Familien betreut. Klinikdirektor Professor Veit Roessner nennt im Interview ein ganzes Bündel an Ursachen für die wachsenden Probleme Heranwachsender:
Werden immer mehr Kinder und Jugendliche ein Fall für den Psychiater?
Roessner: Ja, aber dazu gibt es kaum verlässliche Daten. Es gibt aber ein Phänomen, das positiv ist: Eltern und die Gesellschaft sind mehr sensibilisiert und tun Auffälligkeiten bei Kindern nicht mehr ab. Auch Erzieher und Lehrer reagieren darauf, wenn ein Kind vom Normenkatalog abweicht. Da geht heute viel eher die Warnleuchte an als noch vor zehn Jahren. Wir merken eine Zunahme, weil mehr Aufmerksamkeit auf dieses Probleme gerichtet ist.
Was macht Kinder heute krank? Wächst die Anzahl der Faktoren?
Roessner: Da sind Leistungsdruck und Konsum zu nennen. Ich selbst bin überzeugt, dass auch Medien eine Rolle spielen. Im Fernsehen kann man selbst in Familienfilmen Szenen erleben, in denen zum Beispiel der Vater den Anrufbeantworter zu Boden wirft, weil ihm die Nachricht nicht gefällt. Für Kinder lautet dann die Botschaft: Wenn ich etwas nicht mag, mache ich es kaputt. Die Konsumgesellschaft prägt, genau wie der Leistungsdruck und die Medien.
Inwieweit spielt der Leistungsdruck eine Rolle?
Roessner: Das ist gewissermaßen ein Globalisierungseffekt. Ein Mensch hat in Deutschland heute nicht mehr bis ans Lebensende ausgesorgt. Früher war das für die meisten so. Da hatte man einen Job an einem Ort, bis zur Rente. Heute muss man schon als Schüler konkurrenzfähig bleiben. Wenn ich intellektuell und psychisch nicht so gut ausgestattet bin, habe ich viel mehr Druck, zu funktionieren, als das noch vor 10 oder 20 Jahren der Fall war. Die Möglichkeiten, mit seiner Lebenssituation zufrieden zu sein, nehmen ab.
Sind heute mehr Kinder verhaltensauffällig, oder haben sich nur die Maßstäbe verändert?
Roessner: Beides. Wir haben das Prinzip der Selbstwirksamkeit nicht mehr. Es gab früher Sachen, für die man einfach etwas tun musste. Wenn man Langeweile hatte, musste man sich etwas suchen. Heute sitzen Kinder vor dem Fernseher und können zwischen 300 Programmen wählen. Alles ist da, Kleidung, Wohnung, selbst der elterliche Fahrdienst bringt Kinder heute zur Schule. Sie müssen nichts mehr tun, um etwas zu erreichen.
Gibt es eine Veranlagung für psychisches Fehlverhalten?
Roessner: Ja. Dazu sind interkulturelle Studien gemacht worden. Es gibt einen bestimmten Prozentsatz von Kindern, bei denen es gleiche Auffälligkeiten gibt - ob nun in Brasilien, Korea oder Deutschland. Es gab auch früher schon auffällige Kinder. Im Struwwelpeter gibt es den bösen Friederich, den Zappel-Philipp und Hans Guck-in-die-Luft. Das sind die drei Kernsymptome bei der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Sind Kinder auch Symptomträger für die Probleme ihrer Eltern? Müssten nicht auch die Eltern therapiert werden?
Roessner: Absolut. Wenn eine alleinerziehende Mutter eine Depression hat und sich dann auch noch mit einem nervigen Kind auseinandersetzen muss, wird es schwer. Man kann zu seinen Kindern durchaus konsequent und streng sein und trotzdem viel bessere Beziehungen zu ihnen haben als Eltern, die ihrem Kind zum iPad auch noch die Süßigkeiten reichen. Erziehung ist richtige Arbeit und eine Investition. Dafür fehlt manchen leider das Gespür.
Gehört es nicht zum Zeitgeist, dass Kinder heute als gleichberechtigte Persönlichkeiten wahrgenommen werden müssen?
Roessner: Man darf mit ihnen nicht auf gleicher Augenhöhe sein. Der Erwachsene muss immer über dem Kind stehen, das Heft in der Hand behalten. Das ist in unserer Gesellschaft völlig verloren gegangen. Es gibt Dinge, über die ein Kind nun mal nicht zu entscheiden hat und die eine völlige Überforderung darstellen.
Lassen sich bei psychischen Störungen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen ausmachen?
Roessner: Jungen sind eher in der Kindheit auffällig. Bei ihnen macht sich das vorwiegend externalisierend - also nach außen gerichtet - bemerkbar. Bei Mädchen treten sie mehr in der Pubertät und internalisierend auf, zum Beispiel als Essstörung. Das ist ein Muster, das man weltweit findet. Bei Jungen stellen wir aber eine Zunahme der Essstörungen fest. Das hängt wohl auch mit dem von Medien vermittelten Körperideal zusammen.
Sind Eltern vor einem psychisch auffälligen Kind gefeit?
Roessner: Alle Schichten sind betroffen. Je früher man zur Behandlung kommt, desto besser sind die Heilungschancen. Leider gibt es auch ein Imageproblem. Manche stellen sich unter dem Namen Kinder- und Jugendpsychiatrie Gummizelle, Spritzen und tonnenweise Ritalin vor. Wenn Eltern zu uns kommen, sind sie oft froh. Wir können ja gar nicht so selten auch Entwarnung geben. Wenn das Kind aber erstmal in den Brunnen gefallen ist, wird es schwer.
Sind Eltern manchmal auch erleichtert, wenn es eine Diagnose gibt - selbst eine schwierige wie ADHS?
Roessner: Klar. Dann haben sie etwas in der Hand, eine Erklärung. Und in jedem Gespräch sagen wir den Eltern schon am Anfang: Es geht hier nicht um Schuld.