Serie: Traumreisen:Sommer in Sibirien

Lesezeit: 5 min

Sehnsuchtsort für Esoteriker: Der Schamanenfelsen auf der Insel Olchon im Baikalsee. (Foto: Felix Lipov/Mauritius Images/Alamy)

Die warmen Tage sind kurz, das Erlebnis ist intensiv: Am Baikalsee kann man nicht nur gut wandern, sondern auch bei Familien wohnen, für die Gastfreundschaft ein hohes Gut ist.

Von Ingrid Brunner

Der Geist des Ortes ist polyglott. Zumindest erklärt eine Infotafel in mehreren Sprachen, was es mit dem Schamanenfelsen auf der Insel Olchon auf sich hat. Von hier oben auf der Wiese gleich außerhalb von Chuschir, dem Hauptort der Insel, geht der Blick hinab auf das viel fotografierte Kap Burkhan. Schaut man hingegen von unten nach oben, sieht man 13 riesige Holzpfähle - Serges genannt. Menschen kommen hierher, schlingen ein buntes Band um einen Serge und wünschen sich etwas. Unzählige bunte Bänder flattern im Wind, bis sie sich lösen und davongetragen werden. Auf dass der Wunsch in Erfüllung gehen möge. Ein bisschen wie in Altötting, aber eben mit anderen Mitteln. Auf Serges in Normalgröße stößt man überall in der Baikalregion, sie waren ursprünglich Wegweiser, Pfähle zum Anbinden der Pferde. Und noch heute gelten sie den Burjaten, einem mongolischen Volk, das hier im Osten Russlands lebt, als Kraftorte.

Es würde indes nicht verwundern, wenn der Geist des Schamanenfelsen längst irgendwohin emigriert wäre, wo er seine Ruhe hat. Einst war dieses kleine Kap mit seinen vom Wind gezausten Bäumen als heiliger Rückzugsort den Burjaten vorbehalten. Olchon, die größte Insel im Baikalsee, ist quasi so etwas wie deren geistiges Zentrum, ihr Rom. Bis er sich zum Pilgerort für Esoteriker, Achtsamkeitsschüler, für echte und selbst ernannte Schamanen aus aller Welt entwickelt hat. Zumindest war dies vor vier Jahren, dem Zeitpunkt der Reise, noch so. Die Besuchermassen hatten Spuren hinterlassen. Olchons Hauptort Chuschir war überlaufen. Wer die einzige öffentliche Toilette aufsuchte, merkte: Am Kraftort roch es auch kräftig.

Doch auch das war Chuschir - und das ist es wohl auch immer noch, jetzt, da keine ausländischen Gäste kommen: Bunte Holzhäuser am Ortsrand, in denen Familien hinter dichten, hohen Zäunen leben. Mit großen Gärten, in denen sie alles anbauen, was im kurzen sibirischen Sommer gedeiht und geerntet werden kann - Kartoffeln, Gurken, Tomaten, Kräuter, Karotten. Wer das Gartentor durchschreitet, landet in der Lebenswelt der Menschen, die sich stark unterscheidet von der Welt der Guest Houses und Pensionen. Die Gastgeber tischen auf. Morgens kochen sie fein duftende Kascha - Getreidebrei mit Zimt und Kompott -, dazu gibt es Eier von den eigenen Hühnern, Wurst, Käse.

Neun Gäste und Dima, der einheimische Guide, verbringen zwei Nächte bei der Familie. Tagsüber wandern sie auf schmalen Wegen an Olchons Steilküste, machen mittags Picknick am Ufer, abends gehen sie in die Banja, die russische Sauna, danach essen sie an einer langen Tafel zu Abend. Gastfreundschaft ist ein hohes Gut in Russland. Die Menschen geben viel und erwarten nichts. Schon wegen eines kleinen Gastgeschenks sagt die Wirtin Galina gerührt "Gott segne dich".

An die Pfähle, Serge genannt, binden Einheimische wie Touristen Schleifen, damit Wünsche und Gebete in Erfüllung gehen. (Foto: Nikolay Vinokurov/Mauritius Images/Alamy)

Das Klohäuschen ist draußen im Garten, auch die Waschgelegenheiten sind im Freien. Die Wasserspender an der Wand müssen die Gäste erst mit einer großen Schöpfkelle aus einem Bottich befüllen, damit etwas aus dem winzigen Hahn rinnen kann. Alle fotografieren begeistert diese kleinen Emailbassins. Ein Erlebnis für Menschen aus Mitteleuropa - für Dima nichts Außergewöhnliches.

Dima, der mit vollständigem Namen Dimitrij Katunzew heißt, ist in Sibirien zu Hause. Er hat Geografie studiert und kann den Reisenden alles über den Baikalsee erzählen, den ältesten, tiefsten See der Welt, entstanden aus einem kontinentalen Grabenbruch. Weil hier die eurasische und die amurische Platte auseinanderdriften, entstand ein Riss, der Baikalgraben, und der wächst weiter: Pro Jahr verbreitert und vertieft sich der Baikalsee um zwei Zentimeter. Das findet Dima interessant. Unsereins dagegen ist beeindruckt, dass die Menschen hier ein Sommer- und ein Winterhaus haben, mit massiven Wänden, zwei Haustüren, von denen die äußere dick isoliert ist wie eine Kühlraumtür.

Schon klar: Westeuropäer blicken anders auf diese Dinge als die Russen, nicht wenige Einheimische würden diese einfache Lebensweise gern hinter sich lassen. Auch in der Reisegruppe herrschen darüber unterschiedliche Ansichten. Einige Gäste nehmen den fehlenden Komfort hin, andere wollen genau das. Da ist das wanderbegeisterte, weit gereiste Paar, das eben auch hier mal gewesen sein muss. Da sind Russland-Fans, die schon an vielen anderen Orten des großen Landes waren. Oder die DDR-Nostalgiker, die eines Abends nach etlichen Wodkarunden einen Trinkspruch "auf die deutsch-sowjetische Freundschaft" ausbringen.

Dimas Chefin, Tamara Djatlova, ist in beiden Welten zu Hause. Wer die perfekt gestylte Frau sieht, verortet sie eher in Moskau oder St. Petersburg. Doch zu Minirock und Glitzerkniestrümpfen von Swarovski trägt die Mutter von vier Kindern Wanderstiefel und sagt: "Ich könnte nirgendwo anders leben als hier." Sie hat in Deutschland studiert und mit ihren Sprachkenntnissen eine profitable Nische für sich und ihren Mann gefunden: Zusammen organisieren sie für deutschsprachige Kunden Trekking- und Wanderreisen im Osten Russlands und in der Mongolei. In Listwjanka stößt sie zur Gruppe.

Einheimische Tiere wie Robben und Omule sind durch die zahlreichen Touristen bedroht

Listwjanka ist der Ausflugsort schlechthin am Baikalsee, er hat die älteste Tradition im Fremdenverkehr und war sogar noch überlaufener als Chuschir. Das hübsche Städtchen mit seinen bunten Holzhäusern, die sich einen Hügel hinaufziehen, hat Ausflugslokale, Cafés, Hotels und Geldautomaten. Der Ort ist populär bei Russen, Europäern, Koreanern und immer mehr Chinesen. Vor vier Jahren gab es auf dem Markt noch Omul im Überfluss - frisch, geräuchert, eingedost. Der Omul ist ein Fisch, der zur Familie der Salmoniden zählt und nur im Baikalsee vorkommt. Jeder Zimmerwirt, der etwas auf sich hielt, servierte ihn gebraten mit Reis und Salat. Doch zu viele Touristen und zu wenige Kläranlagen führen zur Verschmutzung des Lebensraums des Fisches. Westliche Medien und Naturschützer berichten, dass der Omul überfischt sei, obendrein habe ein Virus die endemischen Baikalrobben befallen.

Doch davon will Tamara nichts hören. "Stimmt alles nicht, was die westlichen Medien da berichten", sagt sie, wenn man sich heute am Telefon nach der Situation erkundigt. Den Robben gehe es prächtig, und es gebe reichlich Omul. Wie viele Russen ist sie sehr dünnhäutig, wenn es um Kritik aus dem Ausland oder auch nur um schlechte Nachrichten über ihre Heimat geht. Immerhin räumt sie ein, dass es ein zehnjähriges Fangverbot für den Omul gebe. Als Ersatz werde nun Rjapuschka gegessen. "Das ist der nächste Verwandte des Omul", ein Kaltwasserfisch aus den nördlichen Flüssen, erklärt Tamara. "Den Unterschied schmeckt keiner", sagt sie, "zumindest keiner von den Touristen."

Kurzer, heißer Sommer: Einheimische Jugendliche feiern ihre Partys mit Blick über den See. (Foto: Ingrid Brunner)

Von Politik spricht sie nicht gerne, auch andere Russen, die man unterwegs trifft, antworten ausweichend. Tamara erzählt lieber vom Baikal wie von einem belebten Wesen. "Der Baikal versteckt sich", sagt sie, wenn die Sicht schlecht ist, "der Baikal ist zornig", wenn es stürmt. Dass die Natur belebt ist, Geister in Bäumen wohnen, an bestimmten Orten, etwa an Wegkreuzungen, ist hier ein weit verbreiteter Glaube. Auch, wenn man nicht alles offen sagen kann, so kann man immerhin glauben, was man will. Man kann sogar das eine glauben, ohne dem anderen abschwören zu müssen: Schamanismus, russisch-orthodoxe Religion, Buddhismus, Altgläubige - vieles geht zusammen.

Von Listwjanka aus kann man in den Prybaikalsky-Nationalpark wandern. Unterwegs sind auch Russen, mit riesigen Rucksäcken, die alles enthalten, um längere Zeit draußen zelten zu können. Hier gibt es Hinweisschilder - sie erklären auf Russisch und Englisch die Dos and Don'ts beim Campen: Während also Lagerfeuer, Musik, Zelte und Kochen ausdrücklich erlaubt sind, ist das Mitführen von Sägen und Gewehren verboten. Man hat da wohl einschlägige Erfahrungen. Die Gruppe aber ist zu Gast bei dem Förster Vladimir am Kap Kadilnij. Er lebt dort jahraus, jahrein mit seiner Frau Natascha und einer Kuh. Unterwegs haben alle Pilze gesammelt. Abends gibt es Ragout mit Kräutern aus Sibirien. Aber vorher heißt es: Banja und ein Bad im See, an dessen Ufer im August schon Abendnebel aufziehen. Hier spürt man ihn, den Geist des Ortes.

© SZ vom 10.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Serie: Traumreisen
:Fahrt ins Blaue

Geborgen zwischen Himmel und Wasser, nichts zu tun als Dösen, Essen und Nähe genießen. Wie schön es ist, auf einem Gulet-Boot mit Freunden durch die Türkische Ägäis zu gleiten.

Von Christiane Schlötzer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: