Tourismus und Nachhaltigkeit:Hitchcocks Vögel in Benidorm

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Und Hirsche in Japan: Während des Lockdowns gingen Bilder viral von Tieren, die sich Räume in Metropolen eroberten - auch weniger aggressiv als die hungrigen Tauben in Spanien. Die Rückkehr der Touristen könnte nun manchen Arten zum Verhängnis werden.

Von Ingrid Brunner

Stadtförster weisen ja schon länger stolz darauf hin, dass die Artenvielfalt in Metropolen wie Berlin höher sei als auf dem Land. Nun aber erfährt die tierische Zuwanderung in die Städte coronabedingt eine größere Aufmerksamkeit. Während des Lockdowns gingen im Internet Fotos und Videos viral von Tieren, die sich urbane Räume erobern, die bis dato von Menschen bevölkert waren. "Allen voran Füchse erweitern ihre Aktivitäten und sind immer häufiger auch zu Tageszeiten in den Straßen unterwegs, die sie sonst eher gemieden haben", erklärt dazu Marc Franusch von der Pressestelle der Berliner Forsten.

Aber mal ehrlich: Was sind Füchse, die sich auf Gehwegen paaren, verglichen mit einem Puma, der durch die Straßen von Santiago de Chile schleicht? Und wie interessant ist ein weiterer, von Wildschweinrüsseln durchpflügter Garten in den Vororten der Bundeshauptstadt im Vergleich zu einem Jaguar, der durch Tulum in Mexiko streicht? In der japanischen Stadt Nara blickten Sikahirsche in die Schaufenster. In Indien soll gar eine ausgestorben geglaubte Malabar-Zibetkatze gesichtet worden sein, die in der Mittagshitze durch die menschenleeren Gassen einer Kleinstadt tigerte. Doch wilde Tiere in der Stadt taugen nicht als Beleg für die Idee, die Natur hole sich zurück, was ihr gehört. Das zeigt sich etwa in Thailand: Seit dort die Touristen ausbleiben, liefern sich vielerorts hungrige Tempelaffen Verteilungskämpfe um Futter, sie bestehlen Passanten und plündern Geschäfte. Und in Benidorm an der Costa Blanca zeigen Aufnahmen einen Schwarm weißer Tauben, die eine alte Frau mit Einkaufswagen verfolgen - eine Szene, die an Hitchcocks Film "Die Vögel" erinnert. Verzichtet man auf Romantisierung und Dämonisierung, so gibt es eine einfache Erklärung für das ungewöhnlich erscheinende Verhalten: Tiere besetzen frei werdende Räume. Und sie folgen dem Nahrungsangebot. In Siedlungsräumen ernähren sich Möwen und Makaken, Füchse und Krähen von den Essensresten der Menschen, von Fritten und Burger, Krabben- und Matjesbrötchen.

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Vielleicht aber zeigen sich draußen, jenseits urbaner Räume, positive Corona-Effekte? Imke Zwoch vom Nationalpark Wattenmeer dämpft diese Erwartung: "Der Lockdown ist ein langer Zeitraum für die Menschen, aber ein kurzer für die Natur." Und doch, erklärt sie, habe die Abwesenheit von Menschen im Watt auch ihr Gutes: Von Mai an sei Wurfsaison bei den Seehunden, dieses Jahr seien die Tiere weitgehend ungestört. Strandwanderer neigen dazu, vermeintlich verlassene Seehundbabys retten zu wollen, deren Mütter aber nur auf Nahrungssuche im Meer unterwegs sind. "Es werden viel mehr Heuler als nötig aufgesammelt und zur Seehundstation gebracht. Doch wenn Menschen sie einmal berührt haben, nehmen ihre Mütter sie nicht mehr an." Deshalb Zwochs Bitte an die zurückkehrenden Urlauber: "Keine Heuler retten!"

Und wie steht es um die Schweinswale in der Nordsee? Werden sie nun ähnlich oft gesichtet wie aktuell Delfine im Mittelmeer, die sich dank des deutlich verringerten Schiffs- und Bootsverkehrs wieder im Bosporus, in kroatischen und italienischen Häfen zeigen? "Die Schweinswale sind da", sagt Imke Zwoch. Aber anders als Delfine seien Schweinswale Einzelgänger. Und auch wenn sie ähnlich geräuschempfindlich seien wie die Delfine: Entscheidend für Walsichtungen sei weniger die Abwesenheit von Lärm als vielmehr das Nahrungsangebot: "Sie folgen den Fischen."

Allein wegen der Ausgangssperre stellen sich spektakuläre Tiersichtungen also weder an der Nordsee noch im Bayerischen Wald ein. Und doch tut sich im Osten Bayerns etwas: "So viele Tierspuren wie derzeit habe ich hier noch nie gesehen", sagt der Biologe Marco Heurich, der hier an Schutzprogrammen für den Luchs arbeitet. Es ist im Wald wie im Watt: Weniger Besucher bedeuten weniger Störungen für die Tierwelt. Der Luchs und andere Arten, so Heurich, könnten sich derzeit freier bewegen als sonst. So wanderten Rehe, Wildschweine und Hirsche wie selbstverständlich über die Wege, näherten sich ohne Scheu den sonst von Besuchern umlagerten Gehegen.

Auch der Forstwissenschaftler Andrea Mustoni sieht keinen sofortigen positiven Corona-Effekt auf die Natur. Er arbeitet im Naturpark Adamello-Brenta in der norditalienischen Provinz Trentino. "Sicher, mit einem Augenzwinkern könnten wir annehmen, dass sich die Wildtiere jetzt fragen: Na, wo sind denn all die lauten Menschen geblieben?" Tatsächlich aber profitieren seiner Einschätzung nach lediglich einige Säugetiere in den mittleren Lagen der Trentiner Bergwelt davon, dass weniger Menschen kommen. Im schneebedeckten Hochgebirge seien die Tiere ohnehin bis ins Frühjahr hinein relativ ungestört. Immerhin ein Braunbär in der Brenta scheint sein Revier erweitert zu haben, wie italienische Medien berichteten. Das neugierige Tier lief einer Familie nach, die dort in den Bergen unterwegs war. Der Vater filmte mit dem Handy seelenruhig, wie sein Sohn über eine längere Zeit von einem Bär verfolgt wurde, der sich aber irgendwann von selbst trollte.

Doch immerhin einige Vogelarten in der Brutphase scheinen von der Situation zu profitieren, wie Silvia Teich von der Nabu-Pressestelle vorsichtig optimistisch erklärt. Störungen durch Menschen, insbesondere Touristen, seien während des Shutdowns stark zurückgegangen. Das könne besonders Arten nützen, die in Dünen und auf Sandstränden brüten - etwa dem Seeregenpfeifer oder der Zwergseeschwalbe. Auch solche, die auf Kiesinseln in Flüssen im Voralpengebiet brüten, wie der Flussregenpfeifer und der Flussuferläufer, reagieren besonders sensibel auf touristische Störungen. "Für diese Arten könnte es ein Superjahr werden", sagt Teich.

Allerdings nur, wenn die Touristen den Brutplätzen bis zum Ende ihrer Brutzeit, also bis Ende Juli, fernbleiben. "Eine ökologische Falle könnte sich aber ergeben", sagt Teich. Nämlich dann, wenn diese Arten in diesem Jahr an normalerweise störungsanfälligen Stellen brüteten, weil dort im Moment nichts los ist. "Sollten diese Stellen vor Ende der Brutzeit wieder von Touristenscharen bevölkert werden, haben die dortigen Bruten keine Chance."

© SZ vom 10.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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