Der Frühling ist auf Mallorca kurz und heftig. Nach der Mandelblüte im Februar sprießen leuchtend gelber Sauerklee, roter Klatschmohn und buntes Allerlei an Feld- und Wegesrändern, in Mandel-, Johannisbrotbaum- oder Olivenplantagen. Das Gras schießt in die Höhe, Schafe fressen sich unter den Bäumen satt. Ende Mai beginnt dann meist die Hitze, Gras und Blumen vertrocknen.
Dieses Jahr ist alles anders. Die Natur geht ihren Gang, nur die Menschen fehlen. Gut eine Million gibt es davon auf den Balearischen Inseln. Sie können das große Sprießen derzeit nur auf dem eigenen Grundstück erleben oder während der einen Stunde täglich, die Eltern erst seit Kurzem mit ihren Kindern wieder draußen verbringen dürfen. Die Inselgruppe hat im spanienweiten Vergleich relativ wenige mit dem Coronavirus Infizierte und Todesfälle. Trotzdem gelten hier dieselben strengen Regeln wie im ganzen Land: Das Haus darf grundsätzlich nicht verlassen werden. Knapp die Hälfte aller Balearenbewohner lebt in Palma. Und für sie heißt die Alternative zu Fernglas und Grundstück oft Bildschirm. In sozialen Netzwerken zirkulieren derzeit viele Handyvideos, die Delfine in der Bucht von Palma, Ziegen im Klosterhof von Lluc oder Enten auf Stadtboulevards zeigen. "Die Natur kehrt zurück!", jubeln die User.
Rubén Casas Oché ärgert das. "Die Natur kehrt nicht zurück", sagt er, "sie war schon immer da. Wir haben nur nicht hingeschaut." Der Filmemacher hat vier Jahre lang die Artenvielfalt auf den Balearen beobachtet und dabei einen Kinofilm und eine vierstündige TV-Serie produziert, die noch nicht ausgestrahlt wurde. Casas lebt auf dem Land, in der Inselmitte, und erlebt den Frühling gerade live. Neulich hat er an all die Städter gedacht und beschlossen, die erste Folge seiner Serie "Secretos salvajes de Baleares - Primavera" (Wilde Geheimnisse der Balearen - Frühling) online zu stellen. "Sie können das, was sie gerade verpassen, wenigstens auf dem Bildschirm sehen", sagt er.
So wie Casas sie zeigt, haben die meisten Balearenbewohner ihre Inseln wohl noch nie erlebt. Zu atmosphärischer Musik von Noel Nicolau und der rauen Sprecherstimme des Autors sind fantastische Aufnahmen aus der Luft oder unter Wasser zu sehen, von den Bergen und der Küste, Nahaufnahmen von Feldern und Wäldern. Geierküken wachsen in ihren Nestern an der Steilküste heran, Igel und Schildkröten kriechen aus ihrem Winterschlafversteck, Rote Thunfische kommen vom Atlantik her, um sich im Meer rund um die Balearen fortzupflanzen. Menschen sind nicht zu sehen. Man könnte glauben, die Aufnahmen stammten von abgelegenen Inseln in fernen Ozeanen. "Das war meine Absicht", sagt Rubén Casas, "die Balearen sind mindestens so spektakulär wie der Orinoco oder das Great Barrier Reef."
Die Natur kehrt also nicht zurück, der Mensch nimmt sie nur intensiver wahr. Das sagen auch Experten des Meeresforschungsinstituts Imedea, des Ozeanographischen Instituts und der Umweltstiftung Marilles in Palma. Im Hafen gibt es immer Delfine, sie schwimmen jetzt nur näher an den Strand, weil der Schiffslärm abgenommen hat. Die Enten leben das ganze Jahr im Kanal neben dem Stadtboulevard und dehnen jetzt ihre Spaziergänge aus, weil die Straßen menschenleer sind. Und Ziegen gibt es im Tramuntana-Gebirge massenweise, sie trauen sich jetzt eben aus dem Wald heraus. Die Ausgangssperre hat noch mehr verändert: Die Werte für Luftverschmutzung sind über Mallorca um 61 Prozent gesunken. Und das Wasser im Hafen von Palma ist stellenweise so klar wie das am Naturstrand Es Trenc.
"Wenn das Wasser so sauber bliebe, würden sich Algen bilden, die kleine Fische, Krustentiere und Weichtiere anlockten", sagt Ana Pérez von der Marilles-Stiftung. Sie vermutet, dass derzeit auch die Biomasse im Meer zunimmt, denn Berufsfischer arbeiten mangels Nachfrage nur zur Hälfte. Und Hobbyfischer müssen zu Hause bleiben. "Die Nahrungskette im Meer könnte sich ändern, weil keine großen Fische gefangen werden", spekuliert Pérez, "und Küstenvögel brüten jetzt wahrscheinlich da, wo sich sonst Menschen aufhalten."
Auf der Insel ist Ruhe eingekehrt. Man könnte sie jetzt wieder so nennen wie der katalanische Jugendstilkünstler Santiago Rusiñol, der Mallorca Ende des 19. Jahrhunderts bereist und gemalt hat. Sein Buchtitel "Die Insel der Ruhe" diente jahrzehntelang als Werbeslogan. So lange, bis er nicht mehr taugte, weil es zu voll und zu laut wurde. Jetzt sind die Straßen so gut wie leer, am Hafen und am Flughafen ist kaum etwas los.
Nur ein halbes Dutzend Frachtschiffe legt täglich im Hafen von Palma an, sie versorgen die Inseln mit allem Lebenswichtigen. Personenverkehr ist verboten. Am Flughafen ist der Verkehr fast zum Erliegen gekommen; jeden Tag landen und starten hier nur noch zwischen 20 und 50 Maschinen, vor allem für Frachtgüter. Normalerweise gibt es um diese Jahreszeit täglich tausend Flugbewegungen, wie eine Sprecherin der Fluglotsengewerkschaft dem Diario de Mallorca sagte: "Bei uns herrscht Geisterstimmung."
Erforschen oder messen kann das, was auf der Insel gerade passiert, niemand. Auch Meeresbiologen oder Umweltwissenschaftler stehen ja unter Hausarrest. "Die Veränderungen sind nur vorübergehend", sagt Ana Pérez von der Marilles-Stiftung. "Und für uns sind sie kein Grund zum Feiern, denn Naturschutz kann nur im Einklang mit menschlicher Aktivität gelingen, nicht als Folge einer gesundheitlichen und wirtschaftlichen Katastrophe." Pérez hofft dennoch, dass das Umweltbewusstsein der Insulaner nach der Corona-Krise stärker ist. "Wir könnten die Balearen zu einer weltweiten Referenz beim Meeresschutz machen, das bringt Wohlstand und Fortschritt für alle", sagt sie.
Werkzeug hat die Stiftung dazu geliefert. Nur ein paar Tage vor Ausrufung des landesweiten Alarmzustands hat sie einen knapp 400 Seiten dicken Bericht im Parlament der Balearenregierung vorgestellt, zum Zustand des Meeres rund um die Inseln. "Es ist eines der besterhaltenen im ganzen Mittelmeer", sagte Aniol Esteban, Vorsitzender der Marilles-Stiftung bei der Präsentation am 11. März, "und das, obwohl der Druck durch den Menschen stetig steigt." Die Balearen haben im Gegensatz zur spanischen Festlandküste zwar keine Flüsse, die Abwasser ins Meer leiten und auch keine Industrieanlagen, die das ganze Jahr über die Umwelt belasten.
Doch auch die Tourismusindustrie ist bedrohlich, vor allem im Sommer. Dann fließt schlecht geklärtes Abwasser ins Meer, weil die Kläranlagen überfordert sind; Die Seegraswiesen, wichtige Akteure im Ökosystem Küste, sterben deswegen ab; Der Grundwasserspiegel sinkt wegen Raubbaus in der Hochsaison, das Wasser versalzt und ist in Gegenden mit viel Landwirtschaft schadstoffbelastet. Die Datensammlung soll eine Grundlage sein für eine Politikwende, die die Natur zumindest weniger zerstört. Die verbaute Fläche an der Küste hat laut Bericht seit dem Jahr 2000 um 38 Prozent zugenommen. Ein Drittel aller Strände ist überfüllt, das heißt: Jeder Badegast dort hat weniger als fünf Quadratmeter Platz. 140 Tonnen Müll werden vor den Küsten jedes Jahr eingesammelt, die Hälfte davon ist Plastik. Seit 2014 hat die Zahl der Frachter, Kreuzfahrtschiffe und Fähren drastisch zugenommen.
Zu Hochzeiten legen vor den Balearen monatlich 80 Kreuzfahrtschiffe an. Und die Besucherzahl hat sich seit dem Jahr 2000 verdoppelt, 2012 waren es zwölf Millionen. "Bei mehr als zwölf Millionen Touristen im Jahr geht die Wertschöpfung gegen null oder ins Negative", zitierte Aniol Esteban das Ergebnis einer Studie. Negative Wertschöpfung heißt: Der Tourist hat keinen schönen Urlaub, das Ökosystem der Insel leidet, und die Einwohner sind genervt.
Die Balearen sind am Anschlag. Sie waren am Anschlag. Denn niemand weiß, wann Mallorca, Menorca, Ibiza und Formentera wieder Touristen empfangen können. Und wie sich die Inseln als Reiseziel neu etablieren werden. Den Sommerurlaub solle man jetzt noch nicht buchen, riet kürzlich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Der Arbeits- und Tourismusminister der Balearen, Iago Negueruela, hofft aber, dass im August wieder die ersten Touristen landen.
Vorerst werden es wohl vor allem Spanier sein. Insulaner sollen auf den Nachbarinseln Urlaub machen, und Festlandspanier sollen in subventionierten Flügen kommen. Die Preise der Flugtickets vom Festland auf die Balearen sollen zu 75 Prozent vom spanischen Staat subventioniert werden. Die Balearen brauchen die Urlauber dringend: Das Bruttosozialprodukt der Region werde um mehr als 30 Prozent sinken, verkündete Negueruela, ein Drittel der Arbeitsplätze werde verloren gehen, also mehr als 147 000 Stellen.
Noch kann sich auf den Balearen niemand den Sommer 2020 vorstellen. Festivals, Konzerte und Open-Air-Veranstaltungen jeder Art sind bis 2021 gestrichen. Auch am Strand muss der Sicherheitsabstand gewahrt werden, hat Spaniens Tourismusministerin Reyes Maroto dieser Tage gewarnt. Mallorcas Problemlage hat sich verändert, von überfüllten zu menschenleeren Stränden. Viele deuten den radikalen Einschnitt als einmalige Chance: so Margalida Ramis von der Umweltschutzbewegung Gob. "Wir starten bei null und können jetzt die Entwicklung steuern", sagt sie, "mit neuen, sozialen und ökologischen Kriterien." Ramis regt auch an, endlich andere Wirtschaftszweige zu stärken, um die extreme Abhängigkeit vom Tourismus zu überwinden.
Eine Veränderung hat sich bereits von selbst eingestellt. Hunderte arbeitslose Kellner und Rezeptionisten fangen kommende Woche bei den Bauern als Feldarbeiter an. Deren Geschäft boomt, weil sich die Insulaner mehr regionales Obst und Gemüse nach Hause liefern lassen. Die Bauernverbände haben die Haushalte dazu aufgerufen, das zu konsumieren, was sonst an Hotels und Restaurants geliefert wird. Das Bewusstsein für die Abhängigkeit von außen hat sich während der Corona-Krise verschärft. Dazu kommt die Jahreszeit: Frühling ist Pflanzzeit, und wegen des Reiseverbots konnten die Landwirte keine Saisonarbeiter aus Kolumbien bekommen. Viele Kellner verrichten jetzt die Arbeit, die ihre Väter und Großväter vor Jahrzehnten aufgegeben haben, um im Tourismus ihr Geld zu verdienen.