Reisebildband "No Ponte":Ein Traum von einer Brücke

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Am Strand von Sant'Agata im Nordosten Siziliens. Es gibt sehr vage Pläne für einen Tunnel, der von dort statt einer Brücke die Insel mit dem Festland verbinden soll. (Foto: Giuseppe Micciché)

Seit Jahrzehnten wünschen sich Menschen an der Meerenge zwischen Sizilien und dem Festland eine Brücke. Der Fotograf Giuseppe Micciché dokumentiert den mit Sehnsucht angefüllten Stillstand.

Rezension von Stefan Fischer

Ein irritierendes Unterfangen betreibt Giuseppe Micciché, und zwar bereits seit dem Jahr 2005: Er fotografiert regelmäßig etwas, das es gar nicht gibt - die Brücke, die dereinst das italienische Festland mit Sizilien verbinden soll. Ob sie je gebaut wird, ist fraglich. Als Idee existiert sie indessen bereits seit annähernd einem Jahrhundert.

Der italienische Diktator Benito Mussolini hatte über eine solche Verbindung erstmals öffentlich gesprochen, noch während des Zweiten Weltkriegs. Immer wieder sind die Pläne aufgegriffen worden, am ernsthaftesten wohl von Silvio Berlusconi. Immer wieder sind hohe Geldsummen investiert worden, um das Projekt voranzutreiben. Und immer wieder sind die Anstrengungen neuerlich eingestellt worden. Zuletzt wurde auch noch ein Tunnel als Alternative zu einer Brücke ins Spiel gebracht.

Zwei Motive gibt es in Giuseppe Miccichés Fotoband "No Ponte" (zu Deutsch: keine Brücke), auf denen eine Brücke doch zu sehen ist. Einmal auf einem Wandgemälde anlässlich der Messe Fiera di Messina im Jahr 2006 und einmal als Modellbau, ausgestellt ebenfalls 2006 in Messina. Würde sie tatsächlich gebaut, sie wäre die bis dato längste Hängebrücke der Welt, errichtet auf sandigem Untergrund und inmitten einer Erdbebenregion. Ein wahnwitziger Superlativ und der zentrale Punkt, weshalb die Brücke bis heute kaum mehr ist als ein Planspiel, eine Utopie. Als solche verleitet sie viele Menschen jedoch zu Träumen und Hoffnungen. Anderen macht diese Brücke Angst.

Ein Wandgemälde der Brücke, die es gar nicht gibt, anlässlich der Messe Fiera di Messina im Jahr 2006. (Foto: Giuseppe Micciché)

Die Großeltern von Giuseppe Micciché sind in den Sechzigerjahren in die Schweiz ausgewandert. Auch sie und ihre Nachfahren haben die Straße von Messina, die Meerenge zwischen Sizilien und Kalabrien, seither oft überquert, wenn es für die Ferien zurück in die alte und danach wieder zur Arbeit in die neue Heimat ging. Micciché erinnert sich an die zahlreichen Fährfahrten mit den langsamen Annäherungen an "unser Dorf", in dem er jedoch nicht aufgewachsen ist, sondern eben in der alpinen Emigration. Er erinnert sich besonders gerne an die Arancini, sizilianische Reisbällchen, die es auf der Fähre immer zu essen gab und die den Geruch und den Geschmack der Insel verbreitet haben, noch ehe Micciché sie jeweils betreten hatte.

Eine Brücke würde das Festland und die Insel weitaus enger aneinander binden als die Fähren. Sie brächte Wohlstand, weil Güter und Menschen viel schneller und viel einfacher übers Meer transportiert werden könnten. Sie ist eine Hoffnung für viele Menschen an beiden Ufern der Straße von Messina. Und das ist es, was Giuseppe Micciché fotografiert: die Obsession und zugleich der Fatalismus in Zusammenhang mit der imaginären Brücke. "No Ponte" porträtiert eine Region im Stillstand. Auf den Bildern passiert wenig. Selbst eine Aufnahme junger Männer am Strand von Sant'Agata, von denen einer einen Salto schlägt und dabei von den übrigen Dreien eher gelangweilt beobachtet wird, vermittelt keine Dynamik. Sondern den Eindruck, dass hier Zeit herumgebracht wird. Es ist niemand da, den man beeindrucken könnte mit dem akrobatischen Kunststück, es gibt nichts zu tun als abzuhängen.

Was aufgebaut wird an den Ufern der Straße von Messina, ist bestenfalls halbfertig und bleibt das vielleicht absehbar auch. Was fertiggestellt worden ist, befindet sich bereits wieder im Zerbröseln und Zerfallen. Die Brücke, das machen diese Bilder klar, wäre ein wichtiger Katalysator, um die Region zu entwickeln. So aber dümpelt vieles vor sich hin. Und doch verändern sich die Dinge, langsam und nicht immer mit erkennbarem Ziel, jedenfalls nicht für einen Betrachter aus der Fremde.

Tauchschuhe beim Trocknen. (Foto: Giuseppe Micciché)

Und natürlich gibt es einen Alltag der Menschen hier, sie können ja nicht einfach nur warten auf etwas, das womöglich nie eintritt. Sie gehen ihrer Arbeit nach oder ihren Hobbys. Fischer sind auf den Fotografien zu sehen, die ihre Boote streichen, eine Taucherin, Anwohner, die ihre Wäsche aufhängen oder Abfälle verbrennen. Menschen, die tratschen, debattieren, beobachten. Teenager beim Baden. Fliegende Händler.

Die Bilder zeigen eine Seite von Sizilien ebenso wie von Kalabrien, die Reisende gemeinhin ausblenden. So sie denn überhaupt die Fähre benutzen und nicht ein Flugzeug, geht es für sie schnell weiter in den Süden oder den Westen Siziliens, Richtung Palermo oder Taormina beispielsweise. Und auf dem Rückweg richtet sich der Blick auf das Etappenziel Rom. In der mobilitätsgetriebenen Gegenwart ist "No Ponte" auch eine Erforschung des Immobilen, Beharrenden, Unveränderlichen. Das Buch erzählt von der Notwendigkeit, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Und vom Trost des Überschaubaren, Kalkulierbaren.

Giuseppe Micciché : No Ponte. Edition Patrick Frey, Zürich 2023. 156 Seiten, 68 Euro.

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