Der Hirsch will nicht weichen. Stolz starrt er Adrian Ciurea an. Nur langsam trottet er mit erhobenem Geweih davon, als der Naturschützer aus seinem Geländewagen aussteigt. "Der hier fühlt sich wohl als Herr im Wald." Es scheint tatsächlich so zu sein, als fürchte er sich kaum vor dem Menschen. Ob er jemals einem Jäger begegnet ist?
Hier in den Făgăraș-Bergen, hoch über dem Dâmboviţa-Tal, fernab jeglicher Siedlung, mag der Mensch noch ein Fremdling im Revier der Rothirsche sein - oder besser: wieder. Seit acht Jahren ist das ehemalige Jagdgebiet ein streng überwachtes Naturreservat. Heute muss das Wild hier vor allem Wölfe fürchten, Luchse und Bären. Nirgendwo sonst in Mitteleuropa streifen so viele Großraubtiere umher. Nirgendwo haben sich so große Flächen mit Urwald erhalten wie in den Karpaten.
"Wir haben hier eine biologische Vielfalt bewahrt, die anderswo längst verschwunden ist", sagt Ciurea, "aber auch hier ist sie bedroht." Der 33-Jährige aus Zărnești arbeitet für die Fundaţia Conservation Carpathia (FCC). Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, in Transsilvanien den größten Wald-Nationalpark Europas zu schaffen. Zuvor war Ciurea Ranger im Piatra-Craiului-Nationalpark. Teile des im Deutschen Königsteingebirge genannten Höhenzugs der Südkarpaten stehen seit 1938 unter Naturschutz. Gemeinsam mit den angrenzenden Făgăraș- und Leaota-Bergen soll in Zukunft ein Schutzgebiet von mehr als 250 000 Hektar entstehen - mehr als zehnmal größer als der Nationalpark Bayerischer Wald. "Viele Leute sind uns gegenüber noch immer skeptisch", sagt Ciurea, "aber sie beginnen langsam zu verstehen, dass am Ende auch der Mensch vom Schutz der Natur profitiert."
Nicht weit von der Stelle, an der Ciurea auf den Rothirsch getroffen ist, besucht er einen Ranger in einem neuen Fotoversteck für Touristen. Die Bunea-Blockhütte liegt auf einem Bergrücken mit Blick auf eine kleine Lichtung über dem Dâmboviţa-Tal und den dicht bewaldeten Hängen des Făgăraș-Massivs als Kulisse. So weit das Auge reicht: nichts als Wildnis. Früher gehörte für Naturfotografen in den Karpaten eine gehörige Portion Glück dazu, um jemals ein Foto von einem Braunbär zu schießen. Die Bunea-Hütte bietet nun beste Chancen und ist sehr komfortabel: Sie hat nicht nur einen Holzofen, sechs Betten und sogar eine Dusche - hier bekochen die Ranger ihre Gäste, und zum Abendessen vor dem Auftritt der Bären gibt es Rotwein. Vor den großen Fenstern finden sich in der Dämmerung Dutzende verschiedene Tierarten ein: neben den Braunbären auch Rehe, Rothirsche, Wildschweine, Füchse, Marder und etliche Vogelarten. Hin und wieder tauchen sogar Wölfe auf oder ihr Heulen ist zu hören.
Die Touristen wähnen sich in dieser einsamen Bergwelt in einem vom Menschen unangetasteten Naturparadies. Doch weniger als eine halbe Stunde auf abenteuerlichen Schlammpisten entfernt geben Nebelschwaden den Blick auf ein völlig anderes Panorama frei. Als hätte eine Lawine den Hang überrollt, klafft inmitten des Waldes eine kahl geschlagene Bergflanke. Einsame, zurückgebliebene Baumstümpfe in der gigantischen Lichtung lassen erahnen, dass hier vor Kurzem noch ein uralter Wald gestanden haben muss.
Andernorts geht der Kahlschlag weiter
In den 2000er-Jahren wurden mehrere Tausend Quadratkilometer Land aus Staatsbesitz an die Bevölkerung zurückgegeben. Viele der neuen Waldbesitzer hatten jedoch nur wenig Bezug zu ihrem Eigentum. So kauften Holzhändler ihnen für wenig Geld riesige Flächen ab und ließen sie roden. Eine regelrechte Mafia entwickelte sich und verkaufte - gedeckt durch korrupte Politiker - das Holz an inländische Holzeinschlagunternehmen und ausländische Konzerne. Umweltschützer erheben seit Jahren Vorwürfe gegen die österreichischen Unternehmen Kronospan und Schweighofer, die bestreiten, in illegale Holzgeschäfte verwickelt zu sein.
"Die Holzfäller machten selbst vor den Schutzgebieten keinen Halt", sagt Ciurea, "so gingen innerhalb weniger Jahre riesige Flächen wertvoller Waldbiotope verloren." Abertausende Hektar Wald wurden vor allem zwischen 2005 und 2010 in den Karpaten illegal gerodet. Niemand kennt die genauen Zahlen. Laut der Naturschutzstiftung Euro Natur soll von den mehr als 200 000 Hektar unberührter Wälder, die im Jahr 2004 kartiert wurden, gerade noch die Hälfte intakt sein. Die FCC konnte den Holzeinschlag in dem von ihnen kontrollierten Teil der Făgăraș-Berge inzwischen weitgehend aufhalten. Andernorts geht der Kahlschlag weiter. Die staatlichen Kontrollen funktionieren oft nicht, die Verantwortlichen sehen weg oder sind selbst an dem Geschäft beteiligt. Ob andauernde Proteste von Umweltschützern, wie etwa die gegen ein gigantisches Straßenbauprojekt im Unesco-Welterbe Domogled-Valea Cernei im Südwesten Rumäniens, etwas ausrichten können, bleibt unklar.