So einen hatten die Bergbauern noch nicht gesehen. Einen so feinen Herren aus der Stadt, der auch bei Sonnenschein mit rotem Regenschirm spazieren geht, immer allein. Der wenig spricht, aber umso mehr notiert. Ein Professor aus Basel, tuscheln sie, als Friedrich Nietzsche im Sommer 1881 zum ersten Mal nach Sils-Maria kommt.
Irre Kopfschmerzen haben ihn in die Höhe getrieben. Fast 2000 Meter über dem Meer geht es ihm besser, er fühlt sich frei, auf dem Dach Europas. "Im Engadin ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden", schreibt er. "Es kann gar nicht still und hoch und einsam genug um mich sein."
Nietzsche ist damals 36 Jahre alt und fast blind, seine Arbeit als Philosophie-Professor hat er schon zwei Jahre zuvor aufgegeben. Nun aber dieses Licht in den Bergen - wunderbar, findet Nietzsche. Und wenn es zu viel wird für seine kranken Augen, greift er eben zum Schirm. Was er beobachtet, nutzt er. Der Anblick der Baumgrenze etwa fasziniert ihn. Nietzsche sieht darin die Grenze zwischen Leben und Tod, schreibt über Sein und Nichtsein.
Von seinem Gedankenreichtum wissen die Bauern damals nicht viel. Das müssen sie auch nicht - Nietzsche will nichts von ihnen. Weit weg vom Lärm der Stadt genügt sich der Philosoph selbst. Verzückt hört er seine innere Stimme. "Ach, was liegt doch alles verborgen in mir und will Form und Worte werden!"
Die Landschaft mit ihren hohen Bergen, eiskalten Seen und einsamen Wäldern ist ihm "blutsverwandt". Der Norden und der Süden Europas scheinen ihm im Engadin vereint. Er fühlt sich gleichzeitig wie in Finnland und Italien.
Wenn die Wissenschaftlerin Mirella Carbone in Sils-Maria über Nietzsche spricht, wird seine Geschichte ganz lebendig. Es scheint, als könne er jeden Moment zur Tür hereinkommen in dieses kleine Haus im Dorfzentrum, das heute seinen Namen trägt. Nietzsche hat hier zwischen 1881 und 1888 sieben lang Sommer gelebt.
Über knarrende Holztreppen geht es hinauf in den ersten Stock. Carbone öffnet die Tür zu einer Kammer. Darin gibt es gerade genug Platz für ein Bett, zwei Tische, einen Stuhl und ein Sofa. Durch ein Fenster fällt etwas Licht auf den Tisch, an dem Nietzsche seinen Zarathustra geschrieben hat. Darin entwarf er die Vision von einem "höheren Menschen", einer geistigen Elite. Später missbrauchten die Nazis dieses Werk.
Mirella Carbone seufzt leise, dabei ist Nietzsche längst raus aus der braunen Ecke und in Sils-Maria haben sie ihm ein feines Museum gewidmet. Unterm Dach gibt es auch Zimmer für Künstler und Studenten, die dort einige Zeit arbeiten möchten. Carbone bleibt vor einer Nietzsche-Büste stehen, die Max Kruse 1898 - zwei Jahre vor Nietzsches Tod - aus Marmor gehauen hat.
Die Italienerin berührt den weißen Stein und sagt: "Nietzsche soll die Büste gestreichelt haben, da war er schon geistig umnachtet." Was er aber zuvor im Engadin geschaffen hat, findet Carbone unglaublich. "Für ihn war diese Gegend wirklich ein magischer Kraftort."
Viele Besucher meinen, Sils-Maria habe zwei Pole - das einfache Nietzsche-Haus und das mondäne Waldhaus, das einem gestrandeten Ozeandampfer gleicht. Das Hotel steht auf einem Fels über dem Dorf. Auf einem Turm weht die Schweizer Flagge im Wind. Seit 102 Jahren ist das Haus in Familienbesitz. Wer durch die großen Glastüren tritt, wird traditionell von einem der Direktoren begrüßt. "Das ist kein anonymes Luxushotel - wir zeigen, dass wir da sind und wir möchten auch unsere Gäste kennenlernen", sagt Hotelier Felix Dietrich in der Eingangshalle.
Aus der großen Halle dahinter klingt Klaviermusik. Die Gäste sitzen in tiefen Sesseln und hören Jazzmelodien, andere spielen mit ihren Kindern "Mensch ärgere dich nicht" oder lesen die Neue Zürcher Zeitung. Von ihnen sind nur die Hände zu sehen.
Ob so auch Hermann Hesse und Thomas Mann ihre Nachmittage verbracht haben - und all die anderen berühmten Gäste des Hauses, Marc Chagall, Elsa Morante, Claude Chabrol, Luchino Visconti, Albert Einstein ...? Kellner laufen mit leichten Schritten von Tisch zu Tisch, servieren Kaffee und Kekse. "Eine heile Welt, nicht wahr?!", sagt eine alte Dame aus Zürich, die seit 20 Jahren Urlaub im Waldhaus macht. "Die Probleme und Sorgen bleiben unten im Tal zurück."
Ein paar Schritte entfernt von dem leichten Leben empfängt einen in der Bibliothek des Hauses Stille. Ein Herr sitzt mit geschlossenen Augen allein in einer Ecke. In den Schränken warten Hunderte Bücher auf ihre Leser. Auf einem Tisch liegt Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame, die wunderbare Geschichte über Liebe, Hass und Mord in einem Schweizer Dorf.
Als Gast im Waldhaus konnte Dürrenmatt ein Filou sein, erinnert sich Hotelier Felix Dietrich. "Er musste strenge Diät einhalten - aber er liebte gutes Essen und guten Wein", sagt Dietrich und lächelt verschmitzt. Was also machen? "Er schickte seine Frau immer zum Skifahren und sagte ihr, er bleibe im Hotel, arbeiten. Dann kam er ins Restaurant und wir haben ihm natürlich seine Wünsche erfüllt." Und die Diät? Dietrich zwinkert: "Es gab ein möglichst leichtes Essen und Dürrenmatt hatte trotzdem seine Freude." Ins Gästebuch schieb der Autor trocken: "Ein reines Glück gibt's nicht hienieden. Auf Wiedersehen. Ich war zufrieden."
Kein reines Glück also? Wer im Juli während des Bergfrühlings durch die grünen Lärchenwälder des Engadins wandert, sieht das wohl anders. Marcel Proust schrieb in Tage der Freuden, wie er an einem See im Engadin weinte vor Glück. Rilke, Hesse und Mann schrieben begeisterte Briefe über die "Herrlichkeit" der Landschaft. Von den Bergen, auf denen noch immer Schnee liegt, weht ein angenehm kühler Wind herab. Die Wiesen im Fextal stehen voll duftender Blumen und Kräuter.
Der Künstler Marco Zuffellato lebt dort seit sieben Jahren in einem alten Bauernhaus. Hinter dicken Mauern arbeitet er an Skulpturen, die archaisch wirken. Dafür nutzt er Holz, Felle und Tierknochen, die er in der Natur findet. "In den Bergen gibt es vieles, das mich inspiriert." Zuffellato ist viel rumgekommen in der Welt, das Engadin aber findet er perfekt. "Ich fühle mich hier gleichzeitig geborgen und frei. Der Sommer ist energiegeladen, so viel Licht und Sonne."
Wenn abends die Sonne hinter den kargen Bergrücken verschwindet, können in dieser archaischen Zarathustra-Welt aber auch schwere Gedanken aufsteigen. Doch dafür gibt es Gegenmittel. Etwa dieses Video, in dem der Künstler Jonathan Meese auftritt. Er präsentiert im Waldhaus Zeichnungen, die Scarlett Johansson zeigen sollen. Es braucht viel Phantasie, um den Hollywoodstar zu erkennen. Irrwitzig, das Ganze. Genauso müsse man diesen "super-genialen" Nietzsche sehen, meint Meese. Also: "Man muss mit ihm unseriös umgehen, weil er unseriös war. Der war nicht Kultur, der war Kunst. Kultur ist mundgerecht, zerschnippelt; Zuchtprogramm. Er war üppig, Erotik, totale Macht, er war Spielzeug."
Eine zweite Möglichkeit, Sils-Maria leicht zu nehmen, ist in Gesellschaft von Genießern, die sich in der Küche des Waldhauses verwöhnen lassen. Bei Wein, Fisch und Fleisch geht es zwar auch um Sein und Nichtsein, aber da wird über große Politik und die Macht und Tricks der Bank-Manager philosophiert. Nietzsche hätte bestimmt seinen Spaß gehabt.
Nach vier Stunden interessiert einige Gäste aber nur noch eines: Wie macht der Koch nur diese perfekten Soßen? Jetzt wäre der Philosoph wohl aber schnell zur Tür hinaus. Vielleicht mit einem irren Lachen. Auch im Alltag faszinierten ihn die Rätsel selbst, nicht deren Entzauberung. Wenn alles klar wäre - so sah es Nietzsche -, wäre ja alles zu Ende.
Reise-Tipp: Der Kultursommer im Engadin
Populäre Melodien mit unbekannten Instrumenten spielen Musiker auf 20 Konzerten bis 15. August auf der Halbinsel Chastè oder in der kleinen Bergkirche Fex Crasta im Fextal ( www.engadinfestival.ch). Viel Gefühl verspricht bis 15. August auch das Festival da Jazz St. Moritz mit Stars wie Richard Galliano, Brandy Butler und James Taylor ( www.festivaldajazz.ch). Die Silser Kunst- und Literaturtage folgen vom 26. bis 29. August den Spuren von Gerhard Meier, Peter Handke und Giovanni Giacometti ( www.kubus-sils.ch).
Keiner hat den Zauber der Region und seiner Menschen in seinem Werk so eingefangen wie der Maler Giovanni Segantini, der vor mehr als 100 Jahren im Oberengadin gelebt hat. In St. Moritz ist das atmosphärisch intensive Werk des Avantgardisten ausgestellt - es zeigt das Werden, Sein und Vergehen von Mensch und Natur. ( www.segantini-museum.ch)
Die Familie des Künstlers bietet auch exklusive Führungen durch das Atelier und Wohnhaus des Künstlers uns seiner Lebenspartnerin Bice Bugatti in Maloja an. ( www.segantini.org)
Sils-Maria im Engadin
Sils-Maria ist ein Teil von Sils (oder rätoromanisch Segl) im Kanton Graubünden. Der Ort ist eingebettet zwischen dem Silsersee und dem Silvaplanersee. Bekannt wurde die Gegend als Winterskigebiet, im Sommer lohnen sich Wanderungen, etwa ins autofreie Fextal: Es zählt zu den höchstgelegenen, ganzjährig bewohnten Tälern der Schweiz. Im Sommer bringen Pferdekutschen, im Winter Pferdeschlitten die Urlauber an ihr Ziel. An Sils-Maria grenzt direkt das Skigebiet Furtschellas an, das Teil des größeren Wintergebietes Corvatsch-Furtschellas ist. Weitere Informationen unter engadin.stmoritz.ch.