Manchmal passieren an den unaufgeregtesten Orten die aufregendsten Dinge. Und umgekehrt kann es in der spektakulärsten Landschaft sehr fad und austauschbar sein. Wie gut, dass diesbezüglich im Mühlviertel die Fallhöhe gering ist. Von diesem Landstrich, der sich nordwestlich von Linz erstreckt, begrenzt von Donau, Bayerwald und tschechischem Böhmerwald, gehen - anders als in Tirol, wo jeder Berg schreit: besteig mich! - keine Befehle aus: viel Wald und ein paar Hügel, mit Eternitplatten und Gartenzwergen geschmückte Häuser, blühende Obstbäume und ein schöner Fluss - die Große Mühl, die hier über uraltes, rund geschliffenes Granitgestein fließt, das es schon gab, als von den Alpen noch keine Rede war.
Ein großer, runder, neun Tonnen schwerer Granit-Findling liegt denn auch wenige Meter vor der Eingangstür zum Mühltalhof.
Überspannt wird der Stein von einem Dach, das keines ist, weil ein riesengroßes Loch darin klafft, sodass es aussieht, als wäre der Findling aus dem Weltall hier eingeschlagen. Ist er aber natürlich nicht. Es handelt sich um ein Kunstwerk von Joachim Eckl, einem mit Gastgeberin Johanna Rachinger-Eckl verheirateten Künstler, der aus der ehemaligen Lagerhausgenossenschaft hier im Ort Neufelden über die Jahrzehnte ein sehenswertes Kunst- und Kulturzentrum gemacht hat.
Und mit einer Art von Kunst hat auch das zu tun, weswegen die meisten Leute hierherkommen.
Der Mühltalhof liegt in einem Tal direkt an der Großen Mühl, die hier leicht aufgestaut ist und ein träge fließendes Flussbad bildet, in dem man sich sommers erfrischen oder mit einem der hauseigenen Holzboote herumrudern und angeln kann, auch das alles ganz unaufgeregt.
An diesen Platz und in dieses kunstsinnig und detailverliebt eingerichtete Hotel kommen die wenigsten zufällig. Entweder sind sie Stammgäste, die das in der sechsten Generation von der Familie Rachinger betriebene Haus schon lange kennen. Oder, und das sind wohl die meisten, weil sie gehört, gelesen oder gesehen haben, dass hier ein junger, ziemlich cooler und medial präsenter Koch namens Philip Rachinger wirkt.
Und hier beginnt die Aufregung.
Zumindest für Menschen, denen ihr Gaumen das wichtigste Sinnesorgan ist, und die immer auf der Suche nach neuen Geschmäckern, nach der Essenz der Zutaten und natürlich auch nach guter Unterhaltung sind. Die gehört mittlerweile zum Fine Dining dazu, weshalb die Köche nicht mehr hinter Milchglas-Schiebetüren hantieren, sondern meist in einer offenen Küche und an einer großen Theke direkt im Restaurant.
So sieht auch das "Ois" aus, Philip Rachingers neues Restaurant im Mühltalhof, das er während der Corona-Lockdowns bauen ließ. "Das war voll das Glück, dass wir das in der Zeit machen konnten, wo wir eh nicht aufsperren durften", sagt Rachinger, während er hinter der mehrere Meter langen Theke aus wunderschönem Grünschiefer steht und konzentriert mit Pinzette die ersten Gerichte seines Zwölf-Gänge-Menüs anrichtet, das so heißt wie das Restaurant: "Ois" - also nichts weniger als "alles". Aus der rustikalen Kaminstube, die hier vorher war, ist ein skandinavisch anmutendes, in dunklen Farben gehaltenes und perfekt ausgeleuchtetes Lokal geworden, das so auch in jeder Großstadt stehen könnte.
In großen Städten hat Philip Rachinger auch gelebt, weil er bei Spitzenköchen in Wien, Paris und London sein Können verfeinert hat, bevor ihn sein Vater Helmut, selbst hervorragender Koch, in die Küche des Mühltalhofs zurückgeholt hat. Dort haben die beiden einige Jahre gemeinsam gekocht, bis Helmut vor vier Jahren Hotel und Küche dem Sohn überlassen und den alten Stall auf der anderen Straßenseite zum Bistro "Fernruf 7" ausgebaut hat, wo er seither köstliche, aber nicht ganz so aufwendige Gerichte zubereitet und in ungezwungener Atmosphäre serviert.
Ungezwungen ist es aber auch im "Ois". Man sitzt an runden Holztischen mit eingebauten Besteckschubladen und kann Rachinger und seinem sehr jungen Team aus Köchen und einer Köchin beim Anrichten der Speisen zuschauen.
Fragenstellen explizit erlaubt. So erfährt man etwa, dass das Undefinierbare in dem essbaren Schälchen neben den frischen Erbsen unreife, in Essig marinierte Erdbeeren sind. Zum Schluss wird frischer Kren darüber gehobelt, "damit es ein bissl Bumms kriegt". Hat es, hat es! Es gibt noch mehr von der Erbse, mal kommt sie mit Liebstöckelmayonnaise und Sesam, mal mit geräuchertem Limettenpulver oder Gurkeneis.
Überhaupt ist das Menü über weite Strecken vegetarisch gehalten, ohne dass man etwas vermissen würde, im Gegenteil. Rachinger führt die Karnivoren hinters Licht, indem er auf drei Tellerchen Selchfleisch in verschiedenen Rottönen serviert - es sieht täuschend echt aus. Doch nur auf einem liegt auch tatsächlich geselchtes Fleisch, bei den anderen beiden handle es sich um "Rauna-Gsöchts", wie Rachinger in seiner Mühltaler Mundart verkündet. Die Auflösung des sprachlichen Enigmas kommt sofort beim Essen: Es handelt sich um ordentlich geräucherte Rote Bete, die dadurch ein unglaubliches Aroma samt schinkenartiger Textur entwickelt haben.
Und so geht es fort, begleitet von erlesenen internationalen Weinen, die Daniel Schicker, Rachingers junger und gerade von Gault Millau zum Sommelier des Jahres gekürter Weinexperte einschenkt. Dabei erzählt er kurz, wissensreich aber nie aufdringlich von Herkunft und Machart der Weine. Spaß soll es machen, da sind sich Küchenchef und Sommelier wohl einig.
Dass Rachinger, der unlängst bei Tim Mälzers "Kitchen Impossible" aufgetreten ist, einen sehr kreativen und spielerischen Umgang mit der Kochkultur pflegt, merkt man mit jedem weiteren Gericht: Brennesselblätter frittiert er im Tempurateig, dazu gibt es Joghurt mit Holunderöl; der weiße Spargel kommt spaghettiartig geschnitten vor den Gästen auf den Grill, bevor er mit schmelzendem Rindermark vermischt als "Spargonara" serviert wird, seine Version der Carbonara: rauchig, knackig, fettverstärkt.
Zuletzt gab es ein 24-Stunden-Menü, die Gänge wurden aufs ganze Dorf verteilt
Auf die Frage, wann er auf all die originellen Gerichte-Ideen kommt, antwortet er lapidar: "Ich mach ja nix anderes. Außerdem muss ich schauen, dass es mir nicht fad wird." Die Gefahr ist nicht gerade groß. Hat der 33-Jährige in den vergangenen Jahren immer wieder auf Kulinarik-Festivals und auch bei Kunst-Happenings gekocht, lädt er in diesem Sommer andere Köche zu sich ein. Anfang Mai war die franco-vietnamesische Köchin Celine Pham bei ihm zu Gast. Mit ihr hat er erstmals ein 24-Stunden-Tasting veranstaltet, bei dem die verschiedenen Gänge auf den ganzen Tag und im ganzen Dorf verteilt serviert wurden: vom Mittagessen in der alten Gaststube über das Sorbet in der schicken, neu ausgebauten Sauna, der Brotzeit im Dorf-Wirtshaus "Hopfen und Schmalz", das auch den Rachingers gehört, bis hin zum Finale im "Ois", inklusive DJ.
Irgendwo zwischen falschen Kutteln aus Morcheln und echtem Maibock fragt man sich, ob so ein auf den Tag verteiltes Menü nicht per se schlauer und magenfreundlicher wäre als der Zwölf-Gänger am Abend. Aber erstens gibt es auch ein Vier-Gänge-Menü und zweitens kann man am nächsten Abend auch zu Philipps Vater Helmut in den "Fernruf 7" gehen, wo man die Wahl zwischen drei, fünf und sieben Gängen hat.
Helmut Rachinger kocht mithilfe eines großen Backofens, den er jeden Tag um fünf Uhr morgens befeuert, sein Motto ist: "Leute, Feuer, Musik". Letztere ist sehr gut, genau wie sein Essen - vom grünen Spargel auf Grießbrei bis zum Schweinebauch mit Kimchi.
"Ich hatte auf die ganze Küchenlogistik keine Lust mehr", erzählt der 57-Jährige. Deshalb versuche er, so viel wie möglich wegzulassen, was wohl auch an seinem Faible für die japanische Kultur liegt. Über dem Restaurant, im ehemaligen Heustadel, hat er gerade fünf im reduzierten Ryokan-Stil eingerichtete und nach Holz duftende Gästezimmer fertiggestellt, die auch über das Hotel vermietet werden.
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Hier im "Fernruf" herrscht somit Entschleunigung und Zen, während es drüben im "Ois" mit Vollgas und Szene zur Sache geht. Also gleich zwei kulinarische Erlebnisse an einem der (auf den ersten Blick) unaufgeregtesten Orte Österreichs.
Reiseinformationen:
Anreise: Mit der Bahn bis Linz, weiter mit der Mühlkreisbahn oder dem Bus bis Neufelden.
Essen: Im "Ois": Zwölf-Gänge-Menü: 172 Euro, Vier-Gänge-Menü: 82 Euro, Weinbegleitung extra. Am 30. Mai ist das nächste 24-Stunden-Koch-Event mit Gastköchen, muehltalhof.at/kueche/
Im "Fernruf 7": drei, fünf oder sieben Gänge für 42, 54 oder 66 Euro, fernruf.at
Günstig und bodenständig ist es in Rachingers Dorf-Wirtshaus (Freitag-Sonntag): hopfenundschmalz.at
Ein uriges und gutes Wirtshaus mit Speckräucherei ist der Gasthof Haudum in Helfenberg: haudum.at
Schlafen: Doppelzimmer mit Frühstück ab 144 Euro für zwei Personen mit Frühstück, muehltalhof.at
Kunst: Ein Besuch in Joachim Eckls Kunst-Lagerhaus ist absolut empfehlenswert, nur mit Führung und Voranmeldung: heimart.at
Region: Es gibt mehrere Weit- und Themenwanderwege, zum Beispiel "Granitpilgern" ( granitpilgern.at) an der Großen Mühl entlang, das Textile Zentrum ( textiles-zentrum-haslach.at) in Haslach ist sehr sehenswert, auch die aktive Ölmühle: oelmuehle-haslach.at und der Heilkräutergarten in Klaffer, heilkraeutergarten.at
Allgemeine Auskünfte: boehmerwald.at, oberoesterreich.at