Kältester Ort der Schweiz:52 Grad unter null

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Im Sommer ist die Glattalphütte bewirtschaftet. Im Winter übernachten hier nur ein paar Tourengeher; ein Winterraum ist stets geöffnet. (Foto: Erlebniswelt Muotathal)

Den Kälterekord der Schweiz hält die Glattalp, ein Hochplateau im Bisistal. Im Frühjahr finden Tourengeher hier unberührten Schnee. Wenn sie hartnäckig nachfragen, dürfen sie auch die spannendste Route dorthin gehen.

Von Helmut Luther

Spätestens als einem Lorenz Schelbert die Schaufel in die Hand drückt wird klar, dass der "Schafpferch" ein besonderer Ort ist. Der kaum sechs Quadratmeter große Betonkasten auf der Glattalp beherbergt auf seinem Dach die Wetterstation des lokalen Elektrizitätswerks. Im Inneren des Gebäudes ist ein großes Loch: der Anfang eines Stollens, durch den die Druckleitung des Stromwerkes führt. Herauf gelangten Schelbert und seine Begleiter entlang dieser Rohre: Zuerst geht es mit einer Standseilbahn 750 Höhenmeter durch einen beinahe senkrechten Schacht. Dann mit einer Mini-Diesellok etwa zwei Kilometer quer durch poröses Gestein. Schließlich zu Fuß über eine steile, rutschige Betontreppe: Eine Hand hält dabei die Skitourenausrüstung umklammert, die andere hangelt sich am seitlich im Felsen befestigten Stahlseil nach oben. Zuletzt klappt Schelbert eine Luke auf, jetzt steht die Gruppe vor einer eisernen Tür. Könnte man sie öffnen, wäre man am Ziel: inmitten einer Schneewüste. Im Moment aber blockiert Schnee den Ausgang. Also heißt es schaufeln.

Der so verschaffte Zutritt ist so ungewöhnlich wie der Ort selbst: die Glattalp, ein weites Hochplateau im hintersten Bisisthal zwischen den Kantonen Schwyz und Glarus. Im Sommer weiden hier 500 Kühe, im Winter bleibt das Gebiet meistens menschenleer. Zu abgelegen ist die Alp auf beinahe 2000 Metern, selbst für Skitourengeher, denn der Zustieg aus dem Tal ist lang. Die Landschaft erinnert an Polarregionen. Und ähnlich kalt ist es auch. Am 7. Februar 1991 wurden hier 52,2 Grad minus gemessen, der Kälterekord für die Schweiz. "Wir wussten immer schon, dass es auf der Glattalp ziemlich kalt ist - für Genaueres interessierte sich aber kein Einheimischer", sagt Lorenz Schelbert, der für das lokale Elektrizitätswerk arbeitet. Am Glattalp-See montierte zunächst das E-Werk ein Messgerät. Als die Werte bekannt wurden, installierte Wettermelder Jörg Kachelmann am Schafpferch eine Messstation; regelmäßig konnte er über sensationelle Minusgrade berichten. Heute wird die Wetterstation auf der Glattalp vom Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie betrieben. "Ich habe diese Berichte lange nicht geglaubt", erzählt Schelbert. Die elektronischen Messdaten ließen jedoch keinen Zweifel zu. "Der Kachelmann verkaufte sich gut, nebenbei machte er das Muotathal bekannt", sagt Schelbert.

(Foto: N/A)

Das Tal bildet den Ausgangspunkt für Ausflüge auf die Glattalp. An den Hängen über dem Hauptort Muotathal kleben verwitterte Bauernhöfe mit ausladenden Satteldächern. In den Geschäftsauslagen entlang der Hauptstraße hängen Kuhglocken in verschiedenen Größen, in Regalen verstauben gedrechselte Holzschalen - Reichtümer werden damit wohl nicht verdient. Überregionale Bekanntheit genießen die Muotathaler Wetterschmöcker, die etwa das Verhalten von Ameisen beobachten und dann Wetterprognosen abgeben. Im vergangenen Jahr lagen sie allerdings mit der Ankündigung eines harten Winters arg daneben. Das lokale Tourismusamt wirbt mit dem Bödmerenwald als "größtem Fichtenurwald der Alpen". Außerdem befindet sich eine riesige Karsthöhle, das Hölloch, im Gemeindegebiet. Höhlenführer bieten Exkursionen an.

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Im Winter kommen vor allem Tourengeher hierher. "Vergangenes Wochenende waren im Bisisthal alle Parklätze belegt", erzählt Franziska Gwerder. Die Anfangsdreißigerin arbeitet während der Wintermonate als Kindergärtnerin in einem Nachbarort, im Sommer bewirtschaftet sie die SAC-Schutzhütte Glattalp. Schon ihr Großvater sei dort Hirte gewesen, nun sei es ihr Vater. "Das verpflichtet", sagt Gwerder - auch wenn sie manchmal dort oben den Sommer vermisse. Den Winter verbringt sie im Tal, heute ist sie nur mit dabei, um in der Hütte nach dem Rechten zu sehen und im Winterraum ein paar neue Kerzen zu deponieren. Es ist ein milder Tag, in den Erlenbüschen an der Muota pfeifen die Meisen. Das nach allen Seiten abgeschlossene Hochplateau bilde einen riesigen Kühlschrank, in dem die kalte Luft absinke und nicht entweichen könne, erklärt Schelbert. Gwerder, die das Geschehen auf der Alp im Winter per Webcam verfolgt, hat beobachtet, dass sich ein Minusrekord immer über einen längeren Zeitraum anbahnt: "Es muss mehrere Tage und Nächte wolkenlos bleiben. Wenn es außerdem windstill ist, können die Temperaturen auf einen Tiefpunkt sinken."

Am "Oberen Kraftwerk" beginnt für Tourengeher normalerweise der Aufstieg zur Glattalp. Hier startet auch die Route durch den Stollen, zweifellos die spannendste Art, sich der Glattalp zu nähern. Sofern sie "hartnäckig genug nachfragen", sagt Schelbert, dürften gelegentlich auch Touristen mitkommen. Im Turbinenraum verteilt er Schutzhelme und Stirnlampen, die während der 17-minütigen Fahrt erhellen, was es neben den Gleisen zu sehen gibt: Stalaktiten, Wasser, das gurgelnd durch Löcher und Spalten quillt, Statuen der Heiligen Barbara, Patronin der Bergleute, die in Nischen stehen.

Oben am Schafpferch ist die Schneewand mittlerweile beseitigt. "Zurück auf der Erde", scherzt Lorenz Schelbert. Es fühlt sich an, als sei man mit einem U-Boot aufgetaucht und blicke nun auf das glitzernde Polarmeer: Kein Lebewesen bewegt sich, kein Laut ist zu hören. Ringsum dehnt sich makelloses Weiß aus, unterbrochen nur von zwei dunklen Tupfern - die ebenfalls tief im Schnee versunkene Seilbahnstation sowie die auf einer Erhebung thronende Glattalphütte. Lorenz Schelbert klettert auf das Dach der Wetterstation, um dort das Eis von den Geräten zu kratzen. Es hat schlappe 14 Grad minus. Dann zieht die Gruppe ihre Tourenskier an, durch Pulverschnee geht es zur Schutzhütte hinauf. Lorenz Schelbert zieht die Spur. Von der Messstation bis zur Hütte müssen kaum 50 Höhenmeter überwunden werden. Mit jedem Schritt wird es wärmer. "20 Grad Temperaturunterschied sind nichts Ungewöhnliches", erklärt die Hüttenwirtin. Sie vermutet, dass es in einer Senke am Glattalpsee sogar noch kälter wird als am Schafpferch. "Nur misst dort keiner."

Auf der Hütte stellt Gwerder im stets geöffneten Winterraum die Kerzen in ein Regal und überfliegt die Einträge im Hüttenbuch: Etwa 25 Personen haben seit Saisonschluss im Herbst hier übernachtet, viel mehr werden es erfahrungsgemäß nicht, sagt die Wirtin. Schelbert schaufelt unterdessen den Brunnen hinter der Küche frei, unter dem Schnee fließt Quellwasser. Danach setzen sich die beiden an die Hüttensüdwand und halten ihre Gesichter in die Sonne: Die Wärme wirkt überhaupt nicht nordpolmäßig. Was umso schöner ist, wenn man es ganz anders erwartet hatte.

© SZ vom 12.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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