Wer nicht gern im Mittelpunkt steht, sollte sich so nicht durch Venedig bewegen: mit knallroter Schwimmweste im knallgelben Boot, das zu lang ist, um damit stilvoll enge Kurven zu meistern. Der entgegenkommende Gondoliere blickt grimmig. Man drückt also sich und das Boot gegen eine Hauswand. Und hat sofort ein schlechtes Gewissen. Weil das Paddel an der Ziegelsteinwand kratzt und der so zauberhaft vor sich hin verfallenden Stadt womöglich gerade den Todesstoß versetzt.
Ist gut gegangen. Steht alles noch. Und eigentlich müssten die Tourismus-Verantwortlichen uns, der Attraktion des Tages, jetzt einen Aperol Spritz spendieren. Die Fotografen stehen auf jeder Brücke. Manche lächeln uns an, andere knipsen und sind in Gedanken schon beim nächsten Motiv. Dabei muss man durch diese Stadt nicht hetzen. Venedig kann auch beschaulich sein. Da sind die Krabben, die unter der Wasseroberfläche an einer Hauswand entlangwandern, da ist die Möwe mit gebrochenem Flügel, die sich in einen Seitenkanal zurückgezogen hat. Aus Gärten fällt frisches Grün über rostbraune Zäune. Und dann paddelt man hinaus in den Vorhof dieser amphibischen Stadt, in die Lagune, weg von den tiefen Wasserstraßen, weg von den wellenwerfenden Motorbooten. Und plötzlich ist es nur noch ruhig.
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Unterwegs mit dem Kajak erleben Reisende die Lagune am besten - und erkennen, wie bedroht die maritime Natur hier ist. Impressionen in Bildern.
Der Paddelschlag ist zu hören. Ansonsten nur das Gezeter der Vögel über die ungebetenen Gäste in den Kajaks, die den Barene näher kommen als andere Boote. Auf diesen Salzwiesen haben sich Pflanzen angesiedelt, die einen Schluck Salzwasser hin und wieder vertragen: Salden, Queller, Salzschwaden, Seegräser. Bei Flut ziehen sich kleine Kanäle durch die Barene - Gehbi nennen sie die Venezianer. Bei Ebbe verschwinden viele von ihnen. Dafür tauchen andernorts Velme auf, Sandinseln ohne Bewuchs. Der Tidenhub in der Lagune ist unterschiedlich hoch - von 30 Zentimeter bis knapp über einen Meter.
Der Paddler folgt dem Gezeitenstrom. Und tut das am besten mit jemandem, der sich auskennt. Sonst steckt er schnell im Schlick fest. Ab und an springen Fische aus dem Wasser, so nah, als wollten sie im Boot Rast machen. Im Frühjahr liegen die Brutgebiete der Vögel in den Barene. Austernfischer stochern mit ihren roten Schnäbeln im Schlamm. Reiher, mal in Silber mal in Purpur, nutzen die Ebbe, um am Meeresboden Krebse aus dem Seegras zu fischen. Möwen überall. Und auf den Metallkugeln, die wie eine Installation aus dem Wasser ragen, sitzen Kormorane und trocknen ihr Gefieder. Die Kugeln zeigen in der Lagune an, wo auf dem Meeresgrund Strom- oder Telefonkabel verlaufen.
Die 550 Quadratkilometer große Lagune, sie ist ja Natur aus zweiter Hand. Ein Ökosystem, das in seiner Mitte eine Stadt mit 260 000 Einwohnern und Tausenden Touristen täglich ebenso ertragen muss wie die riesigen Kreuzfahrtschiffe und die Tanker, die die petrochemischen Industrieanlagen bei Marghera ansteuern. Ein Kosmos, der ständig vom Menschen gehegt und gepflegt werden muss, damit er genutzt werden kann wie er seit Jahrhunderten genutzt wird: als Transportweg für Menschen und Güter. Und als Nahrungslieferant.
Wehe dem, der im 16. Jahrhundert wagte, Schwarzgrundeln während der Laichzeit zu fischen. Ihm drohte die Gerichtsbarkeit der Stadt zwei Jahre Galeere an, alternativ fünf Jahre Kerker, "falls er zum Galeerendienst nicht taugt", wie Piero Bevilacqua in seinem Buch "Venedig und das Wasser" schreibt. Außerdem musste der Fischräuber 25 Dukaten Strafe zahlen - die Hälfte bekam derjenige, der ihn angeschwärzt hatte.
Mit Naturschutz im heutigen Sinn hatte das wenig zu tun, es galt vielmehr, das Gemeinwohl zu schützen. Heute werden die Fische in trichterförmig aufgestellten Netzen gefangen, in die sie mit dem Gezeitenstrom treiben. Oder sie kommen aus den Valli. In den Teichen an den Rändern der Lagune werden nach althergebrachter Art Meeresfische gehalten, die als Jungtiere ins seichte Wasser gewandert sind.
Muscheln, Krebse, Enten, Blesshühner: Für alles gibt es hier Rezepte. Und die Einheimischen seien beim Essen traditionsbewusst, sagt Luca Bonetti, der auf Sant'Erasmo im einzigen Restaurant der Insel arbeitet, im Hotel Il Lato Azzuro. Die Artischocken, die auf der Bauerninsel wachsen, werden entweder nur in Öl eingelegt. Oder man kocht sie im Topf, mit Öl, Knoblauch, Salz und Pfeffer. Luca Bonetti ist aus Mailand zugezogen. Er hat es einmal mit gegrillten Artischocken probiert. "Eine Revolution!" Die nicht lange Bestand hatte.
Man ist hier in einer Zwischenwelt. Zwanzig Minuten braucht das Vaporetto, der Wasserbus, nach Venedig. Auf Sant'Erasmo indes gibt es einen Lebensmittelladen, eine Kirche, eine Bar. "Wir müssen unsere Häuser nicht zusperren. Wir kennen uns alle", sagt Pamela Pedron, die auf der Insel aufgewachsen ist und auf dem Weingut arbeitet, das so heißt, wie die Insel wirkt: Orto, Gemüsegarten. Den Garten mit seinen Pfirsich- und Feigenbäumen, den Reben, dem Spargel, den Tomaten zu erhalten, ist allerdings ein ständiger Kampf. Land, auf dem nichts angepflanzt wird, ist sofort von Schilf bedeckt.
Die Fischer von Sant'Erasmo, sie sind meist zugleich Jäger. Für die Vogeljagd bauen sie im seichten Wasser einen Sichtschutz aus Schilf, Coegia genannt. Manche Fischer setzen zudem Lockvögel aus Plastik ein. Wer an einem Wochenende in der Lagune unterwegs ist, wundert sich, dass hier überhaupt noch etwas kreucht und schwimmt und fliegt. Weil ja nicht nur die professionellen Fischer die Lagune bewirtschaften, so gut wie jeder Venezianer scheint sich zu bedienen. Vor jeder Insel ankern Boote, von denen aus zwei, drei Angelruten ins Wasser führen. Und wo das Meer Sandbänke freigibt, bohren Menschen ihre Finger in den Schlick. Was sie finden, einheimische Herzmuscheln oder die größere, eingeschleppte Philippinische Venusmuschel, landet auf dem Teller.
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"Das Meer hier ist unglaublich nährstoffreich", sagt Paolo Bubacco, der Präsident der Fischervereinigung der Insel Sant'Erasmo. Jede Flut spült frisches Wasser in die Lagune, jede Ebbe zieht den Dreck der Stadt hinaus aufs offene Meer. Zumindest war es bislang so.
Seit 2003 wird in der Lagune an einem Sperrwerk gearbeitet, das Venedig vor Acqua Alta, der gefürchteten Sturmflut schützen soll. Ein gewaltiges Unterfangen, allein die Kosten für den Bau werden auf bis zu sechs Milliarden Euro geschätzt. Mose heißt das Projekt, eine Abkürzung für Modulo Sperimentale Elettromeccanico. Falls ein Hochwasser droht, sollen bewegliche Klappen, die in Schächten am Meeresboden liegen, herausgefahren werden und verhindern, dass Wasser in die Stadt drückt.
Die meisten Venezianer sind nicht gut auf das Projekt zu sprechen, das einen Bürgermeister bereits das Amt gekostet hat. "Man hatte uns nicht weniger als die Rettung Venedigs versprochen", sagt Paolo Bubacco, der Fischer. "Was willst du dagegen einwenden." Doch die Kosten explodieren. "Und keiner weiß, ob das Werk jemals funktioniert." Nun sei das Geld gebunden, das für den Erhalt der Wasserwegweiser gebraucht würde, ärgert sich Bubacco. Er lässt aber auch nicht unerwähnt, dass die Lagune von dem Projekt profitiert hat. Vielerorts wurden Sickergruben durch Kläranlagen ersetzt.
So sauber wie jetzt sei das Wasser schon lange nicht mehr gewesen, sagt Adriano Sfriso, Professor für Ökologie an der Universität von Venedig. Kein Vergleich mit den Jahren zwischen 1960 und 1990, als die Fischer auf der Suche nach Muscheln den Sand mit gewaltigen Rechen durchpflügten und so die Bodenstruktur zerstörten. Und als zudem noch aus den Anlagen in Marghera unkontrolliert Abwässer eingeleitet wurden. Die Zeiten sind vorbei - und Paolo Bubacco hat neue Sorgen. Am Porto di Lido, einer Öffnung der Lagune zum Meer, wurde für das Mose-Projekt eigens eine Insel aufgeschüttet.
Man ist zwar vertraut hier mit solchen Mammut-Projekten: Schon vor Jahrhunderten wurden die Flüsse Brenta, Piave und Sile umgeleitet, die zu viel Schlamm, Sand und Süßwasser in die Lagune trugen. Die neue Insel aber, sie steht wie ein Bollwerk inmitten des so wichtigen Zuflusses. Schon jetzt merken die Fischer, dass sich die Wasserbeschaffenheit in der Lagune verändert. "Es wird salziger", sagt Bubacco. Dass dem so ist, bestätigt auch Sfriso. Er führt die Zunahme des Salzgehalts allerdings auf eine über Jahrzehnte andauernde Entwicklung zurück, verursacht unter anderem durch das immer tiefere Ausheben der Kanäle.
Dass das Wasser salziger wird, hat Auswirkungen auf den Fischbestand. Der Wolfsbarsch, der bislang in der Lagune stark verbreitet war, werde seltener, sagen die Fischer - dafür fühlen sich Goldbrassen wohler. Den Europäischen Wels, ein großer Jäger, der eigentlich im Süßwasser beheimatet ist, sehen sie immer weniger. Dafür werde eine silberfarbene Muschel, Pinna Pectinata, vermehrt gefunden. "Und wir dachten schon, es gibt sie in der Lagune nicht mehr", sagt Bubacco. Sie ist hübsch, wird bis zu zwei Meter groß. "Nur leider schmeckt sie nicht besonders." Ein Umstand wiederum, der ihr hier das Überleben sichern könnte.