Das Matterhorn. Ein idealtypischer Berg. Wenn Kinder einen Berg malen sollen, kommt ziemlich sicher die Form des Matterhorns heraus - ein spitzes Dreieck oder, dreidimensional, eine spitze, ziemlich ebenmäßige Pyramide. Freistehend, oftmals vor strahlendblauem Himmel fotografiert, haben Aufnahmen des Matterhorns meistens einen emblematischen Charakter: Zu sehen ist immer auch die Essenz des Wortes Berg.
Der Fotograf Peter Mathis hat sich für eine andere Bildsprache entschieden. Zwei Aufnahmen des Matterhorns finden sich in seinem Fotoband mit dem schlichten Titel "Berge". In beiden - und auf sehr unterschiedliche Weise - nimmt Mathis ihm die Bürde, nicht nur für sich zu stehen, sondern immer zugleich die ganze Gesamtheit der Berge repräsentieren zu müssen. Auf der ersten Fotografie legt sich eine Wolke um seinen massigen Körper wie ein bauschiges Kleid, verhüllt seine Konturen. Nur die Gipfelpartie schaut heraus. Ganz oben, an einer Flanke, hat sich eine zweite Wolke verfangen. So als würde der Gipfel brennen und Rauchschwaden in den Himmel steigen. Oder als trüge er, passend zum Wolkenkleid, einen verwegenen Kopfschmuck.
Auf der zweiten Fotografie löst der Berg sich auf, vor allem der Gipfelbereich wird beinahe eins mit dem grauen Himmel dahinter. Ganz blass nur erkennt man freiliegenden Fels. Auf diesem Bild ist das Matterhorn keine Manifestation eines Berges, sondern lediglich eine Ahnung davon. So als wäre er ein fragiles, rasch vergängliches, hauchzartes Gebilde.
Es geht Peter Mathis darum, Bilder zu machen, die man noch nie gesehen hat. Ein sehr ehrgeiziger Anspruch, zumal in der heutigen Zeit, in der man alles schon einmal glaubt gesehen zu haben. Doch Mathis löst ihn häufig ein, und eben vor allem auch dann, wenn man das Grundmotiv seiner Bilder bereits kennt. Das hat auch damit zu tun, dass der Vorarlberger Mathis, selbst ein ausgezeichneter Bergsteiger, sich vor vielen Jahren auf die Schwarz-Weiß-Fotografie verlegt hat. Er braucht nicht die besten Lichtverhältnisse, sondern Augenblicke starker Kontraste. Das ist nicht dasselbe.
Es gibt Aufnahmen, auf denen das tiefste Schwarz und das hellste Weiß aufeinanderprallen. Etwa auf einer Fotografie der Salbitbrücke in den Urner Alpen. Im Vordergrund stehen Nadelbäume im Schatten wie Scherenschnitte, erkennbar nur an den Umrissen, nicht an einer Struktur aus Stamm, Ästen, Zweigen und Nadeln. Und hinter der Fußbrücke, die sich spektakulär über einen Abgrund streckt, glitzert der Fels, als wäre er ein großes Stück Tafelkreide. Dann wieder sieht man Bilder, die nicht in diese Extreme auseinanderdriften, sondern zarte und doch klar unterscheidbare Abstufungen von Grautönen aufweisen, beinahe wie geometrische Muster, zum Beispiel am Half Dome in der Sierra Nevada.
Gerade ein scheinbar schlichter Bildaufbau sorgt oftmals für den Eindruck einer besonderen Dynamik und Dramatik. Am Beispiel der Vajolet-Türme in den Dolomiten und der Felsinsel Tindhólmur auf den Färöer-Inseln erklärt Mathis in kurzen Begleittexten, wie essenziell die Suche nach dem perfekten Standpunkt ist. Damit die Schotterebene in einem günstigen Winkel vor den Felstürmen abfällt oder die Silhouette der Felsinsel besonders augenfällig aufragt. Und dann brauche es Geduld, bis eine Nebelbank hereinzieht oder Licht aufs Wasser fällt, damit die Komposition absolut stimmig ist.
Deshalb ist es Peter Mathis auch nicht wichtig, wie prominent die Berge sind oder wie hoch. Es geht ihm um faszinierende Kombinationen von Fels, Schnee, Eis, Wasser, Wolken und Nebel. Die findet er in Skandinavien genauso wie im Elburs-Gebirge, im Karwendel ebenso wie im Mont-Blanc-Massiv. Auf einigen wenigen Bildern steht der Fels allein im Vordergrund, wegen einer besonders bemerkenswerten Gebirgsfaltung, die dort an der Oberfläche erkennbar ist. Mathis zeigt einige Beispiele aus den Appenzeller Alpen, etwa den Altenalptürm oder den Schäfler.
Gerade auch auf diesen Fotografien zeigt sich eine besondere Qualität der Arbeiten von Peter Mathis: eine besondere Schärfe der Aufnahmen. Dadurch erzielt Mathis eine Detailtiefe, wie man sie nur bei wenigen anderen Alpinfotografen findet. Dabei werden die Berge besonders plastisch, entsteht ein Eindruck nicht nur von einer Bildtiefe, sondern tatsächlich von Dreidimensionalität.
Und noch etwas sieht man den Bildern an: Dass man das, was man darauf erblickt, so nur in dem Moment sehen konnte, in dem Mathis seine Kamera ausgelöst hat. Fünf Minuten früher oder zwei Tage später wäre die Szenerie eine andere. Und eine Aufnahme davon womöglich immer noch ein gutes Foto. Aber kein herausragendes, kein einzigartiges. Und wer seiner Arbeit mit solcher Akribie nachgeht, der wird unweigerlich sogar einmal damit belohnt, dass ihm elf Bergdohlen in der Luft scheinbar Modell stehen.
Peter Mathis : Berge. Prestel Verlag, München, London, New York 2023. 176 Seiten, 59 Euro