Zeitgeschichte:Die Angst-Pandemie von Genf

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Wunsch und Wirklichkeit: Schweizer Briefmarke von 1932 zur Genfer Abrüstungskonferenz. Rechts eine Karikatur der sowjetischen Zeitung "Prawda". (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Paul Jankowski hat eine opulente Studie über das Versagen der weltweiten Staatengemeinschaft in den Jahren 1932/33 vorgelegt. Er inszeniert den Weg in den Zweiten Weltkrieg als fesselnden Politthriller.

Von Ludger Heid

In den 1930er Jahren trugen Regime aller Art aus unterschiedlichen Gründen die Reste kollektiver Sicherheit und gemeinsamer Normen zu Grabe. Die Ausbreitung der Unordnung jener Jahre mündete in den Zweiten Weltkrieg. Das Jahr 1933 steht für eine weltpolitische Zäsur. Nichts blieb nach diesem Schicksalsjahr, wie es vorher gewesen war.

Indes waren die Weichenstellungen längst getroffen: Im März 1933 trat Japan aus dem Völkerbund aus, Mussolini schielte südwärts zum Horn von Afrika, Roosevelt, soeben zum Präsidenten gewählt, sorgte mit seiner Isolationspolitik für eine Vertiefung der Kluft zwischen den USA und Europa, die Briten zogen sich in den Schutz ihres Empires zurück, und Frankreich sah, wie gleich drei Premiers erfolglos versuchten, seine beiden früheren Verbündeten in den magischen Kreis der Sieger von 1918 zurückzuholen. Und Hitler kam an die Macht.

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Ergebnislos endete die Abrüstungskonferenz in Genf im Juni 1934 - wo seit Februar 1932 die größte Zusammenkunft von Nationen aus aller Welt seit Versailles stattfand - während gleichzeitig in Schanghai ein militärischer Konflikt zwischen Japan und China tobte. Deutschland pochte auf militärische Gleichberechtigung, Frankreich forderte Garantien. Die Unvernunft obsiegte am Ufer des Genfer Sees. Kurzum: Aggressive Diktaturen und die ideologische Herausforderung durch Kommunismus und Faschismus verliehen den 1930ern ein einzigartiges Schreckensgesicht.

So skizziert der britisch-amerikanische Historiker Paul Jankowski das Plateau der politisch-kakophonischen Gemengelage 1932/33, als die Welt ins Wanken geriet und der Weltfrieden verspielt wurde. Die Nachkriegswelt war endgültig in eine Vorkriegswelt umgeschlagen. Eine ebenso spannende wie elegant geschriebene informative Geschichte erwartet den Leser in einer opulenten Studie.

Ein Politthriller in 14 Akten

Jankowski breitet das Narrativ vom Versagen der weltweiten Staatengemeinschaft aus und inszeniert sein Lehrstück als Politthriller in vierzehn Akten mit Schauplätzen in Tokio und Rom, Berlin, Moskau, New York, Paris und London, Warschau und Budapest, historiografisch eingerahmt von Genf und Schanghai als Ausgangs- und Genf, Sitz des Völkerbundes, als Endpunkt des Geschehens. In diesem Herbst des Jahres 1932 zeigte sich ein Wendepunkt in der Entwicklung der Völkergemeinschaft an. Und die Auspizien verhießen nichts Gutes.

Alle Anstrengungen, das internationale System nach dem Großen Krieg zu verändern, sämtliche internationalen Konferenzen in den 1920er und Anfang der 1930er Jahre waren gescheitert. Eine neue Art von Nationalismus entstand, der weniger auf einen bestimmten Unterdrücker oder Erbfeind gerichtet war, als auf eine feindliche Welt, die sich sowohl durch Akteure im eigenen Land als auch im Ausland manifestierte.

Anfang vom Ende: Adolf Hitler bei seiner ersten Rundfunkansprache an das Volk als Reichskanzler nach der Machtübertragung am 1. Februar 1933 (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Jankowski nennt: Kommunismus, Migrationen, Kapitalismus, das Judentum, den Westen, Pazifismus, ominöse Bedrohung in all ihren Masken - derlei Schrecken überschritten mühelos Grenzen. Und wo immer sie Fuß fassten, wer immer sie sich zunutze machte, sie waren als diffuse Ängste existent. Angst war zu einer ansteckenden Krankheit geworden und jeder hatte Angst vor jedem. Angesichts dieser Stimmungslage spielte die Frage, ob nun Waffen Unsicherheit oder Unsicherheit Waffen gebären würden, kaum eine Rolle, solange das Vertrauen zueinander nicht wiederhergestellt war.

Das Misstrauen regiert die Zwischenkriegszeit

Das Neue an der Krise der Zwischenkriegszeit verortet Jankowski in der Art, in der Massenpolitik gegen jedes über den augenfälligsten unmittelbaren Eigennutz hinausgehende internationale Engagement zu wirken begann. In der geistig-politischen Welt nach Versailles war selbst unter den pragmatischsten Staatslenkern allein Misstrauen geblieben und die Kinder des Ersten wurden zu den Eltern des Zweiten Weltkrieges.

Politische Konfusionen, das Gären isolationistischer Konzepte, pazifistische Träumereien, revolutionäre Chiliasmen, eingebildete existenzielle Bedrohungen für Rasse, Nation oder Klasse, all das begann sich Ende der 1920er herauszubilden und in den Genfer Konferenzräumen zeichnete sich 1932 eine Front ab. Sie verlief zwischen den Streitern für die Heimat und den Propheten eher abstrakter Fiktionen, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft oder, so Jankowski in philosophischer Konnotation, zwischen "Immanenz und Transzendenz", auch wenn das damals kaum einer so ausgedrückt hätte. Manchmal verlief sie zwischen der Rechten und der Linken, manchmal auch innerhalb der einen wie der anderen.

Die Deutschen wollten wieder Militärmacht sein

Und in Deutschland? Im Sommer 1932 hatten fast zwei Drittel der Reichstagsabgeordneten der Republik den Rücken gekehrt. Der Demokratie waren die Demokraten ausgegangen. Monate vor Hitlers Inmachtsetzung war die Stimmung im Lande mehr und mehr nationalistisch aufgeladen. Deutschland sollte sich der sie umgebenden Gefahren erwehren können und wollte wieder Militärmacht sein. Vor allem in den Ländern mit einer gemeinsamen Grenze mit Deutschland begann man sich vor Pangermanismus und radikalem Revisionismus zu fürchten.

Das Scheitern von Genf lässt sich als Menetekel deuten: Jedes der maßgeblichen Nationen versuchte, eine eigene für sie günstige Lösung zu finden, sei es in Form bilateraler taktischer Abkommen oder der Vermeidung von Abkommen überhaupt. Man spielte auf der Klaviatur nationaler Narrative von Bestimmungen oder erlittenem Unrecht oder gab sich vor dem Hintergrund befestigter Grenzen, ozeanischen Burggräben und moralischer Überlegenheit der trügerischen Illusion von Ruhe und Frieden hin. Den deutschen Ambitionen begegneten die versammelten Konferenzteilnehmer in Genf mit einem Mix aus Ächtung und Tatenlosigkeit, während man sich in Berlin bereits die Hände rieb und schon nach Osten schielte.

Paul Jankowski: Das Wanken der Welt. Wie 1933 der Weltfrieden verspielt wurde. Aus dem Englischen von Bernhard Josef. S. Fischer, Frankfurt 2021. 592 Seiten, 39 Euro. (Foto: N/A)

Die politischen Katastrophen mit ihren präzedenzlosen Menschheitsverbrechen, die in den 1930er und folgenden Jahren über die Welt kamen, folgten keiner stringenten Logik und waren nicht notwendigerweise vorherbestimmt. Die damaligen Kombattanten hätten ihrer jeweiligen Geschichte eine andere Richtung geben können, wenn die Völker den politischen Willen gehabt hätten, dem Faschismus und anderen Ideologien zu widerstehen. Jedoch beschwor die finstere Parabel dieser Jahre den Aufstieg autoritärer Bewegungen und ihrer demagogischen Führer mit einem Heer wirtschaftlich Unzufriedener im Schlepptau, das sie maßgeblich stützte.

Die Parallelen zum Heute sind frappierend

Alles so wie heute? Für Paul Jankowski reihen sich die Gewissheiten scheinbar aneinander als besäßen sie Endgültigkeit: Nationalismus, Autoritarismus, soziale Ressentiments - eine dämonische Tirade, die rund um den Globus zu beobachten ist. Wie in den 1930er Jahren nutzen auch heute Demagogen bei ihrem Griff nach der Macht oder deren Erhalt nationale und ethnische Ressentiments für ihre "schneidenden Rufe" nach dem nationalen Primat, das da lautete: "Jeder für sich!" Dennoch, so Jankowski, gestaltet sich die Welt von heute weder multipolar wie damals noch unipolar wie in den 1990er Jahren, sondern schlicht - apolar.

Im Oktober 1933 fiel im Vorzimmer des Kristallsaals im Tagungspalais von Genf der Fries von der Decke. Dies lässt sich als eine Allegorie auf den Frieden deuten. Ein Angestellter des Hotels fegte die Scherben zusammen.

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