Wolfgang Schäuble bemüht sich, das zeigt er gerne, noch immer um den großen Überblick. Wenn der Bundestagspräsident aus dem Fenster seines neuen Büros schaut, hat er nicht nur den Berliner Tiergarten im Blick, sondern auch das Kanzleramt von Angela Merkel. Regierungszentrale und Parlament - gemeinsam zählen sie zu den wichtigsten Säulen der parlamentarischen Demokratie.
Um kaum etwas macht sich der 75-Jährige zurzeit mehr Sorgen als um die Zukunft des westlichen, europäischen Modells. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung beklagt er die mangelnde Effizienz und warnt vor den politischen Konsequenzen. Immer mehr Menschen würden die Demokratie in Frage stellen, so Schäuble. Immer weniger Menschen seien durch sie noch zu erreichen. Stattdessen würden die Leute sagen: "Ihr kriegt nix hin. Das dauert alles zu lange."
Schäuble nimmt diese Klagen ernst; auch er hält die Prozesse für zu schwerfällig. Und warnt davor, dass im weltweiten Wettbewerb längst nicht alle überzeugt seien, dass "das westliche, europäische Modell" überlegen sei. "Die Messe ist nicht gelesen", warnt Schäuble. Und ergänzt das mit einem großen Wunsch: "Ich will nicht akzeptieren, dass das chinesische Modell gewinnt."
Schäuble beklagt "satte Enthaltungsmehrheit" im Bundesrat
Die größten Sorgen bereitet ihm dabei der Föderalismus. Im Verhältnis zwischen dem Bund und den Ländern habe eine Machtverschiebung zugunsten der Länder stattgefunden, die ihn frustriert bis ratlos zurücklässt. Und das hängt für ihn nicht nur, aber auch an der Tatsache, dass mittlerweile in 13 von 16 Bundesländern unterschiedliche Bündnisse regieren.
Diese nämlich würden sich in strittigen Fragen nicht nur selbst blockieren, sondern zu oft auch den Bundesrat handlungsunfähig machen. "Wir haben heute eine satte Enthaltungsmehrheit im Bundesrat", schimpft der Ex-Finanzminister. Zu oft heißt es deshalb: Nichts mehr bewegt sich.
Dass die AfD in den Bundestag eingezogen ist, findet Schäuble nicht schön. Aber er will die Herausforderung unbedingt als Chance verstehen. Mehr Fraktionen heißt für Schäuble, dass alle Redner jetzt präziser und kürzer werden müssen. Auch eine stärkere Konfrontation sei per se eher gut als schlecht. "Ohne Druck geschieht nichts", sagt Schäuble.
Große Hoffnungen setzt Schäuble in das "bemerkenswerte Tempo" des französischen Präsidenten. Emmanuel Macron sei unter den vergleichbaren westlichen Führern der, "der am ehesten eine Chance bietet, dass sich was ändert".
Lob hat Schäuble aber auch für den österreichischen Kanzler Sebastian Kurz übrig. Dieser habe "bislang relativ gut" Macron'schen Schwung in die österreichische Politik gebracht und das Land zugleich auf einem pro-europäischen Kurs gehalten. "Kurz hat mit hinreichender Brutalität den Schwung erzeugt, wie wir ihn eigentlich dringend brauchen." Ob er etwas Ähnliches auch dem Kurz-Freund und CDU-Politiker Jens Spahn zutrauen würde, lässt Schäuble freilich auf seine ganz eigene Art offen.