Selbstbefreiung oder Mythos
Am Abend des 10. April 1945 kündete dröhnendes Artilleriefeuer vom Herannahen der dritten US-Armee unter General Patton. Im Konzentrationslager Buchenwald klirrten die Fenster bei den Abschüssen, die Wände wackelten. Große Teile der SS-Wachmannschaften ergriffen die Flucht. Auf diesen Moment hatten die Mitglieder des kommunistisch dominierten geheimen Widerstands im Lager gewartet. Am 11. April 1945, vor mittlerweile 70 Jahren, riefen sie den Aufstand aus.
Der war lange vorbereitet. Vor allem in den Jahren 1943/44 nahm die internationale Militärorganisation im Lager Gestalt an, streng im Geheimen. Molotow-Cocktails oder Hieb- und Stichwaffen wurden gefertigt - "in überschaubarem Ausmaß, aber sehr systematisch", wie Forscher Ulrich Peters sagt. Häftlinge wurden an Waffen ausgebildet.
Nun war der Moment gekommen. Die Mitglieder des Internationalen Lagerkomitees besetzten Wachtürme und nahmen das Konzentrationslager unter Kontrolle, letztlich ohne große Gegenwehr. SS-Leute in der Umgebung wurden gejagt. Unmittelbare Erschießungen soll es kaum gegeben haben. Und das, obwohl die Rachegelüste unter den malträtierten Häftlingen sicher nicht klein gewesen sein dürften. Etwa 220 der Nazi-Schergen wurden festgesetzt - und der US-Armee unversehrt übergeben, als diese zwei Tage später das Lager übernahm. Bis dahin hatten nur einzelne Vorposten der Amerikaner im Lager vorbeigeschaut.
Haben die widerständigen Häftlinge Buchenwald also selbst befreit? Das war das Bild, das über Jahrzehnte hinweg in der DDR-Geschichtsschreibung transportiert wurde. Auch von einem Sturm auf das Haupttor war die Rede - eine Legende. Der Anteil der US-Truppen an der Befreiung fiel hingegen weitgehend unter den Tisch. Im wiedervereinigten Deutschland wurde der Begriff der "Selbstbefreiung" deshalb als DDR-Mythos zurückgewiesen.
Doch auch Überlebenden-Verbände in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern nutzten den Terminus - und nutzen ihn zum Teil bis heute. Die Perspektive der früheren Häftlinge, die im Lager Widerstand geleistet hatten, werde infrage gestellt, wenn die Selbstbefreiung als kommunistische Propaganda abgetan werde, sagt dazu Ulrich Schneider, Historiker und Geschäftsführer der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora/Freundeskreis. Die Organisation wurde in den 1950er Jahren von Buchenwald-Überlebenden und deren Angehörigen gegründet. Buchenwald habe in der Frontlinie gelegen, doch ohne die militärische Vorbereitung im Innern des Lagers wäre Buchenwald nicht in dieser Form befreit worden, sagt Schneider. Er betont: "Die Selbstbefreiung war das Ergebnis eines langjährigen Kampfes."
Unter den wohl 70 ehemaligen KZ-Häftlingen, die zu den Gedenkveranstaltungen nach Buchenwald kommen, ist auch der 102 Jahre alte Marko Feingold. Der jüdische Östereicher kam 1941 ins Lager. Vor der Befreiung habe es Gerüchte gegeben, dass die SS alle Häftlinge ermorden wollte. "Die Rede war von Flammenwerfern oder einer möglichen Bombardierung", sagt Feingold zur SZ. Am Vormittag des 11. April 1945 seien die SS-Leute zusammengerufen worden, "danach sind die meisten davon geschlichen". Feingold zufolge habe es bis zur Ankunft der Amerikaner ein "Vakuum von drei Stunden" gegeben, aber keinen Aufstand. Die Wachtürme seien wohl nach und nach von Häftlingen besetzt worden, aber von Kämpfen hat er nichts mitbekommen. Der Zeitzeuge hat an dem Tag "keinen Schuss" gehört. Feingold attestiert dem kommunistisch dominierten Lagerwiderstand, "gut organisiert" gewesen zu sein, einen offenen Kampf gegen die SS aber "hätten sie ohnehin nicht gewinnen können." odg
Auch Politikwissenschaftler Ulrich Peters, der den kommunistischen Widerstand in Buchenwald erforscht hat, hält diese Sichtweise für nachvollziehbar: "Die Entscheidung: Wir nehmen das in die Hand und bereiten uns langfristig auf die finalen Tage vor - das ist natürlich auch ein Akt von Selbstbefreiung."
Den Begriff Selbstbefreiung sieht er trotzdem als durch die DDR-Historie besetzt an. Peters plädiert dafür, schlicht von Befreiung zu sprechen. Die Rolle der US-Armee müsse entsprechend gewürdigt werden. Doch dürfe man auch nicht in einem Umkehrschluss den Häftlingen ihre eigene Rolle absprechen - diese Tendenz habe es kurz nach der Wende gegeben.
Ähnlich äußert sich Rikola-Gunnar Lüttgenau, stellvertretender Leiter der Gedenkstätte Buchenwald: "Es gibt eine Vorbereitung auf das Ende des Lagers von innen, sozusagen die Befreiung des Lagers von innen, und es gibt natürlich die Befreiung von außen. Keine der beiden Seiten kann weggelassen werden, um am Ende zu sagen: Das ist die eigentliche Geschichte."