Walter Limmer hatte keine Ahnung von dem Grauen, das noch bevorstand, und er erlebte es auch nicht mehr. "Immer noch wütet diese fürchterliche Schlacht, nun schon den vierten Tag!", schrieb der Jurastudent am 9. September 1914 an seine Eltern. "Diesen Brief schreibe ich aus einem grabenartigen, etwa 40 cm tiefen, selbstgeschaufelten Lager der Schützenlinie."
Die "fürchterliche Schlacht", von der Limmer berichtete, war die Erste Schlacht an der Marne, in der Briten und Franzosen Anfang September 1914 den Ansturm der deutschen Truppen kurz vor Paris aufhielten. Der Erste Weltkrieg war damals gerade einen Monat alt - und doch war die Erste Marneschlacht bereits ein Wendepunkt: Mit ihr endete der Bewegungs- und begann der Stellungskrieg an der Westfront.
Selbstgegrabene Deckungslöcher wurden oft zum eigenen Grab
Der deutsche Angriff kam zum Stehen, nach einem kurzen Rückzug der Deutschen gruben sich die Armeen ein, die Front bewegte sich bis zum Kriegsende 1918 kaum noch. Jene "grabenartigen, selbstgeschaufelten" Deckungslöcher, von denen Limmer schreibt, wurden für die kommenden vier Jahr für Millionen Soldaten zu ihrem neuen Zuhause - oft genug auch zum Grab.
Auch Limmer überlebte nicht. Am 16. September 1914 wurde er bei Châlons-sur-Marne verwundet, am 24. September starb er in einem Lazarett.
Limmers letzter Brief von der Front ist in dem Buch "Kriegsbriefe gefallener Studenten" abgedruckt, eine Sammlung, die bereits 1915 zum ersten Mal herausgegeben und in den Jahren danach immer wieder ergänzt und neu aufgelegt wurde. Die Gedanken und Erlebnisse der jungen Männer nachzulesen, ist noch heute erschütternd.
"Liebe Eltern! Ich liege auf dem Schlachtfeld mit Bauchschuss. Ich glaube, ich muss sterben", schrieb der Theologiestudent Johannes Haas am 1. Juni 1916. Wenig später war er tot, verblutet vor Verdun ( hier mehr über sein Schicksal).
Der ganze Krieg ist in diesen paar Dutzend Briefen abgebildet, vom heiter-aufregenden Ausrücken im August 1914 bis zum Zusammenbruch im November 1918.
Im Spätsommer 1914 spricht aus vielen Briefen noch Freude. "Hurra! Endlich habe ich meine Beorderung", schreibt Walter Limmer. Es ist die gleiche Stimmung, die auch in den Filmaufnahmen aus jener Zeit herrscht: In Kolonnen marschieren blumengeschmückte Soldaten an jubelnden Bürgern vorbei zum Bahnhof und klettern in Waggons, auf denen "Nach Paris!" steht. Nicht alle ziehen mit Begeisterung in den Krieg. Aber das Gefühl, dem Vaterland an der Front dienen zu müssen, sitzt tief.
"Trauert nicht um mich, wenn ich falle"
Der Jurastudent Franz Blumenfeld schreibt seiner Mutter am 1. August 1914: "Ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen als irgendwo untätig zu Hause bleiben zu müssen, wenn draußen Krieg und Kampf ist." Und immer wieder findet sich in den Briefen die Mahnung an die Daheimgebliebenen: Trauert nicht um mich, wenn ich falle. Beklagt meinen Tod nicht. Wenn ich sterbe, dann für die Heimat, für Euch.
Doch es dauert nicht lange, bis sich der Ton ändert. Schon Ende 1914 ist von Kriegsromantik kaum mehr etwas zu lesen, Entsetzen löst die patriotische Schwärmerei ab. Die ersten großen Schlachten des Krieges sind geschlagen, an der Marne, in Flandern. Hunderttausende Männer sind bereits tot oder verstümmelt, ganze Regimenter vernichtet.
Bei Langemarck in Belgien fallen im November 1914 bei einem Angriff auf französische Stellungen einige tausend junge deutsche Soldaten, kaum ausgebildet und schlecht ausgerüstet an die Front geschickt.
Zwei Dinge prägen den Grabenkampf an der Westfront, die es in dieser Form in keinem Krieg zuvor gegeben hat. Das eine sind die grauenhaften Bedingungen, unter denen die Soldaten über Jahre hinweg an der Front leben, kämpfen und sterben. Das andere ist der Irrsinn der Generäle, die vier Jahre lang einer gescheiterten Strategie folgen und dafür Millionen Soldaten mit dem Leben bezahlen lassen.
Zwar wird die Taktik des Stellungskriegs in dieser Zeit stetig weiterentwickelt. Doch im Grunde steckt während des ganzen Krieges hinter jeder Offensive die immer gleiche Idee - einen Durchbruch zu schaffen und den Feind in der Flanke zu packen, damit die Front endlich wieder in Bewegung gerät.
Doch mit Ausnahme einiger weniger Erfolge scheitern alle diese Offensiven. Aus den einfachen Schützengräben des Jahres 1914 werden im Lauf des Krieges fest ausgebaute, verschachtelte, mit Stacheldraht bewehrte Abwehrstellungen, oft mehrere hintereinander, mit tiefen Bunkern, in denen die Verteidiger sicher sind vor dem tage-, manchmal wochenlangen Trommelfeuer, das Angriffen vorausgeht. In diesen Abwehrstellungen bleiben die Angreifer nach ein paar Kilometern hängen wie in einer feuerspeienden, stählernen Hecke.
Die blutige Gleichung Mensch gegen Maschinengewehr bestimmt die Schlachtfelder 1914 ebenso wie 1918, und immer verliert der Mensch. So kommt es, dass die Front im Westen vier Jahre lang an den meisten Stellen nur einige Kilometer, mancherorts nur wenige Hundert Meter hin und her wandert - immer wieder über das gleiche zerschossene, blutgetränkte Terrain hinweg. Die Trichterfelder, welche die eine Seite im Sommer bei einer Offensive einnimmt, erobert die andere Seite im Herbst wieder zurück.
Die Soldaten machen dabei Unmenschliches durch. Hunger, Durst, Todesangst, Granaten, Gas, Ruhr, Ratten. "Sturmangriff auf Dixmuiden. Furchtbar!", schreibt Kurt Peterson im Oktober 1914 in einem Brief. "Wieder gescheitert an dem furchtbaren Maschinengewehrfeuer."
"Wie ein Hagelschauer fliegen unsere Handgranaten"
Helmut Zschuppe schreibt im Oktober 1916: "Nach einem Angriff in einem Laufgraben mit Handgranaten und Flammenwerfern ist man gebrandmarkt an der Seele." Richard Schmieder berichtet im März 1915 aus einem Schützengraben bei Vaudesincourt: "Es war ein großes Morden. In drei Tagen hatten wir auf einer Strecke von 200 Metern 909 Mann Verluste, der Feind Tausende. Die Toten lagen stellenweise so hoch, dass man hinter ihnen Deckung vor Artillerie nehmen konnte."
Von Leichen und Leichenteilen, von unbeerdigten Gefallenen, "stinkend und fliegenübersät", die zwischen und in den Gräben liegen oder im Stacheldraht hängen, ist in vielen Briefen die Rede: "Vor unserem Graben lag bis vor kurzem noch eine Menschenhand mit Fingerring, ein paar Meter davon ein Unterarm, von dem zuletzt nur noch der Knochen übrig war", schreibt Hugo Müller im Oktober 1915.
"Ich eile durch die Stellung, nach den Leuten zu sehen", notiert im August 1916 während der Somme-Schlacht Friedel Dehme. "Entsetzt erkenne ich, dass ich vorhin über Leichen gelaufen bin, die im Wasser herumliegen." Und August Hopp schreibt im März 1915 nach einem Gefecht: "Die Nacht ging vorüber, wir saßen auf Leichen, es bekümmerte einen nicht; wenn man nur nicht im Schlamm sitzen musste!"
Erster Weltkrieg:Wahnsinn Westfront
Bald nach Kriegsbeginn 1914 erstarrte die Westfront. Von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze gruben sich die Deutschen ein, ebenso Franzosen, Briten und deren Verbündete auf der anderen Seite. Was folgte, war ein Novum: Der Einsatz von Giftgas, Panzern und Artillerie tötete Hunderttausende.
Auch der Schlamm ist allgegenwärtig. Von Flandern bis zu den Vogesen verwandelt sich die umgepflügte, aufgerissene Erde entlang der Front bei Regen in Morast. "Schlamm und Wasser füllen den Schützengraben", notiert Karl Uldag im Januar 1915. "Ich kann gestehen, dass oft Ekel mich ergreift gegen dieses Leben in Schlamm und Dreck."
Soldaten, die in die vorderen Stellungen marschieren, verlieren im zähen Dreck ihre Stiefel und gehen barfuß in den Kampf. Bei Angriffen bleiben Nachschub und frische Truppen stecken. Die sorgsam ausgearbeiteten Pläne der Stäbe, die bei Offensiven oft genau vorschreiben, in wie vielen Minuten die einzelnen Kompanien wie weit vorzustürmen haben, sind wertlos.
Trotzdem geht der Krieg Jahr um Jahr weiter. Viele der Briefe kommen von Frontabschnitten, in denen Deutsche, Briten oder Franzosen wieder und wieder versuchen, durch Großoffensiven jenen vermeintlich entscheidenden Durchbruch zu erzwingen, der dem Stellungskrieg ein Ende macht.
"Gas - Erdklumpen - Fetzen in der Luft: das ist Verdun"
Nach tagelangem Trommelfeuer ist der Beginn des Angriffs, wenn der Feind endlich durch Rauch und Feuer sichtbar wird, oft eine Erleichterung. "Endlich die Erlösung!", schreibt Karl Gorzel im Oktober 1916. "Wie ein Hagelschauer fliegen unsere Handgranaten in den anstürmenden Feind."
Die Regimenter stürmen und stürmen, das Blut fließ in Strömen, doch die Angriffe schlagen fast alle fehl. Es gibt die Erste und Zweite Marneschlacht, die Erste, Zweite, Dritte und Vierte Flandernschlacht, die Winterschlacht in der Champagne und die Herbstschlacht in der Champagne, die Herbstschlacht bei Arras und die Frühjahrschlacht bei Arras, die Schlacht um Verdun und die Schlacht an der Somme. Es ist ein einziges fürchterliches Schlachten im Westen, doch die Front hält fast bis Ende des Krieges.
Einige der letzten Briefe, die in dem Buch dokumentiert sind, kommen von dort, wo das Massentöten seinen Höhepunkt findet, wo es bewusst, fast lustvoll betrieben wird, weniger mit dem Ziel, Gelände zu erobern, sondern um den Feind auszubluten: Verdun. "Trommelfeuer - Schlachtfelder, auf denen nichts mehr zu sehen ist, als erstickender Qualm - Gas - Erdklumpen - Fetzen in der Luft: das ist Verdun", schreibt Paul Boelicke im März 1918. Ein halbes Jahr später, im Oktober, ist der Theologiestudent wieder dort im Einsatz.
Schon der Name Verdun erfüllt ihn mit Schrecken. Jeder weiß, dass das Ende des Krieges nahe ist, jeder hofft, nicht noch kurz vor dem Ende zu fallen. "Man wundert sich, dass die Leute noch durchhalten. Aber es ist ein Jammer, sie stöhnen zu hören, weil sie fast nicht mehr können", notiert Boelicke. Und dann, als ahne er sein Schicksal, schreibt er: "Mein Verderben wird dieses Verdun noch werden." Er behält Recht. Paul Boelicke fällt am 12. Oktober 1918 vor Verdun, einen knappen Monat vor Kriegsende.
Das große Sterben an der Westfront dauerte etwas mehr als vier Jahre, zwischen drei und vier Millionen Soldaten starben. Sieger war am Ende nur der Tod.