Es gibt Zeiten der Verzweiflung. In einer solchen Zeit schrieb der Jesuit Friedrich Spee das Lied "O Heiland reiß die Himmel auf". Das war vor bald 400 Jahren, im Dreißigjährigen Krieg, es war die Zeit der Hexenverfolgung; Spee war ihr leidenschaftlicher Gegner - und er war der Beichtvater ihrer Opfer. Er hat die Folter gesehen, den Hass des Mobs und den Wahn in den Augen der Richter. Er hat die Opfer in Blut und Ekel liegen sehen. Er hat die Urteile gehört, Urteile "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes". Er wusste um die Unschuld der Opfer, aber er hat kein Urteil verhindern, er hat nur trösten können. Er hat sich überlegt, ob er sich selbst "den kopff herunter hawen" lässt. Aber dann hat er ihn lieber zum Denken benutzt, hat weitergetröstet und weiterbegleitet zum Scheiterhaufen - und Gott angeschrien in seinem Lied: Reiß auf! Reiß ab! Schlag aus!
Das Lied ist kein Klingeling. Es ist der bittere Ruf nach Gerechtigkeit; es ist die Klage darüber, dass Weihnachten nicht kommt, obwohl es im Kalender steht. Die Klage legt die Enttäuschung frei und bricht der Sehnsucht Bahn. Sie ist der Versuch, sich zu wehren gegen kollektiven Wahn. Spee flieht nicht, auch nicht in simple Antworten. Er konnte den Terror nicht stoppen; aber er konnte tun, was ein Einzelner tun kann: ihn anklagen. Das hat er getan: Er hat es nicht bei Forderungen an den himmlischen Heiland belassen; er wurde zum Widerständler, zum Whistleblower des 17. Jahrhunderts.
Anschlag in Berlin:Gelassenheit in Zeiten des Terrors
Schüsse in Zürich, ein Mord in Ankara, der Anschlag in Berlin - trotzdem siegt in den sozialen Medien Besonnenheit über Hysterie. Das macht Mut.
Sein Trostschrei-Lied ist an Weihnachten 2016 so erschütternd wahr wie 1622. Das Jahr 2016 war ein Jahr an der Schwelle vom Zweifel zur Verzweiflung. Es war, als habe die Weltgeschichte den Weltstaubsauger eingeschaltet. Es ist, als säßen an den Reglern der Saugleistung Leute wie Erdoğan und Trump, als säßen dort die Populisten und Nationalisten, diejenigen, von denen man glaubte, dass ihre Zeit vorbei sei - und dazu, immer und immer wieder, die Terroristen. Es ist, als saugten sie die bisherigen Grundgewissheiten weg und den Boden der Gewissheiten gleich mit. Die Welt wird bodenlos. In der Türkei gibt es neue Hexenjagden. Auf den Philippinen protzt ein Präsident damit, dass er ein Mörder ist. In Deutschland wurde der Weihnachtsmarkt zum Ort des Terrors. Das sicher Geglaubte ist nicht mehr sicher. Der Glaube daran, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sich, und sei es langsam, weiterentwickeln, der Glaube an den Fortschritt der Aufklärung ist erschüttert; er hat tiefe Risse.
Das Weihnachtsgefühl 2016 ist daher nicht wohlig, sondern bang; es ist das Gefühl existenzieller Unsicherheit; es ist das Gefühl, dass unvermittelt die Barbarei durch diese Risse kriechen könnte. Aleppo, der Südsudan, Jemen, Afghanistan, Mossul - das alles ist Tausende Kilometer weg, aber die eigene Hilflosigkeit ist nahe. Man wünscht sich daher zu Weihnachten kein neues iPhone, das einem dann die schlechten Nachrichten noch schöner präsentiert; man wünscht sich etwas anderes, etwas Großes: dass der Engel, der in der Weihnachtsgeschichte "Friede auf Erden" verheißt, vielleicht doch nicht gelogen hat; dass der finstere Lauf der Dinge angehalten wird und der Himmel zerreißt, wie in der Legende von der Heiligen Nacht. Aber die Wunsch-Zeiten sind versunken im Märchen. Wünsche erfüllt kein Engel, kein Christkind, keine Fee. Wünsche erfüllen sich die Menschen selbst. Bei Wünschen, die man in Geschenkpapier einwickeln kann, geht das gut. Bei nackten Lebenswünschen, denen nach Frieden, Herberge, Mitmenschlichkeit, tut man sich schwer; wenn die Menschen sie sich zu erfüllen versuchen, tun sie das oft verzweifelt wie die Briten beim Brexit.
Die Gewissheit ist einem Ohnmachtsgefühl gewichen, dem Gefühl, einem Sog ausgesetzt zu sein
Die Weltzuversicht vieler Menschen ist zerborsten. Die Gewissheit schwindet, etwas Sinnvolles tun zu können, die Gewissheit, dass jeder seine kleine oder größere Welt besser machen kann. Selbst manchen von denen, die mit Herzblut Flüchtlingen geholfen haben, kam das Grundvertrauen abhanden, damit Gutes getan zu haben. Die Gewissheit ist einem Ohnmachtsgefühl gewichen, dem Gefühl, einem Sog ausgesetzt zu sein. Es ist ein Sog der Fremdbestimmung; auf den Einzelnen scheint es nicht mehr anzukommen.
Immer mehr Menschen meinen, sie seien von "der Globalisierung" austauschbar gemacht worden, die vermeintlich über sie kommt wie eine göttliche Schicksalsmacht. Sie leben, sie gehen, mobil wie keine Generation zuvor - aber auf welches Ziel hin? Vielen erscheint ihr Lebenslauf wie der Lauf des Hamsters im Rad. Sie sind nur Masse, die einem Gebot von außen folgt, so wie Maria und Josef in der Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Lukas dem Globalisierungsgebot des Kaisers Augustus gefolgt sind, dass der ganze Erdkreis sich registrieren lassen solle. "Jedermann ging" - so hieß es damals, so heißt es heute. Die Flüchtlingsexistenz wird zum Merkmal der heutigen Zeit. Denn das Gefühl der flüchtigen Existenz haben auch Menschen in den Ländern, in die sich die Flüchtlinge flüchten. Sie erleben die Flüchtlinge als Boten eines Unglücks, das auch ihnen auflauert; Zygmunt Bauman hat das klug beschrieben. Also wehren sie sich gegen die Fremden, um ihnen nicht gleich zu werden; sie sehen die Fremden als Menetekel.
Spee hat damals, in größter Verzweiflung, nicht resigniert: Er hat getröstet, geschrieben, geschrien. Er hat, anonym, die Streitschrift "Cautio Criminalis" verfasst, den Anti-Hexenhammer, darin für die Unschuldsvermutung, für ein faires Verfahren, für Menschen- und Frauenrechte geworben. Er hat Gott angefleht und angefaucht und sich selber auch. Er hat in seinem Lied nicht das süße Christkind angerufen, sondern den "Heiland", der selbst unter das Rad der Geschichte kam und Gewaltopfer wurde. Wie dieser hat er der Verzweiflung standgehalten; er hat sie produktiv werden lassen. Spee war ein Befreiungstheologe, auch wenn es mit der Befreiung von der Hexenjagd noch länger als ein Jahrhundert gedauert hat. Er ist weder dem billigen Trost noch der Trostlosigkeit verfallen. Er ist ein Weihnachtsvorbild.
Nach Anschlag in Berlin:Trost für die Untröstlichen
Wenige Meter vom Schreckensort entfernt kommen Politiker und Bürger zu einer Trauerfeier zusammen. Und erleben besondere Momente der Versöhnung.
"Vielleicht gibt es schönere Zeiten", hat Jean-Paul Sartre gesagt. "Aber dies ist unsere Zeit." Sie braucht Leute, die zur Not den Himmel aufreißen, wenn die Erde die Hölle ist. Dann wird Weihnachten.