Michael Müller bleibt noch vor der Tür stehen, bis sie endlich geschlossen wird. Bis der letzte Gast der Trauerfeier die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche verlassen hat. Müller, der Regierende Bürgermeister von Berlin, er hat Hände gedrückt, Menschen umarmt, Trost gespendet, Trost erhalten. Berlin ist seine Stadt. Und Berlin hat eine neue Wunde. Eine Wunde, die er zu heilen helfen will.
Diese Wunde wird nicht so sichtbar sein wie der im Zweiten Weltkrieg zerbombte Kirchturm der Gedächtniskirche. Ein Mahnmal heute, ein Wahrzeichen der Stadt. Eine Erinnerung daran, wohin Gewalt führt, wenn sie zügellos wird.
Bilder:Berlin gedenkt der Opfer vom Breitscheidplatz
Zahlreiche Menschen legen Blumen am Weihnachtsmarkt nieder und zünden Kerzen an. Das Brandenburger Tor leuchtet in den Nationalfarben: Bilder aus Berlin.
Diese neue Wunde wurde der Stadt am Montagabend zugefügt. Ein Sattelschlepper raste mit hoher Geschwindigkeit auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz. Am Ende starben zwölf Menschen. 14 schweben noch in Lebensgefahr. Noch mehr sind schwer verletzt.
Weihnachtsmarkt ohne Weihnacht
Bald wird der Tatort aufgeräumt, die Buden und Stände eingemottet sein. Und irgendwann werden auch die vielen Blumen und Kerzen verschwunden sein, die Menschen hier ablegen, um an die schrecklichen Ereignisse vom 19. Dezember 2016 zu erinnern. Am Dienstag hat sich schon um 17.20 Uhr eine Traube gebildet vor dem Zugang zur Kirche. Er liegt inmitten der Weihnachtsmarktbuden, die heute geschlossen sind. Ein Weihnachtsmarkt ohne Weihnacht, ohne Zauber. Eingeholt vom Schrecken der Realität.
Schwer bewaffnete Polizisten lassen jeweils nur ein Person durch. "Ich muss da rein!", drängelt eine Frau von hinten. "Sie wollen nicht sehen, was ich gesehen habe!", ruft sie. Und ein Blick in ihre Augen verrät etwas von dem, was sie am Abend zuvor wenige Meter entfernt erlebt haben muss. Keine 24 Stunden sind seither vergangen.
Traumabewältigung:Der Angst trotzen
Die wirksamste Hilfe gegen die Angst vor dem Terror ist, diese nicht herbeizureden. Doch ist die Furcht einmal da, muss sie ernst genommen werden.
Sie wird hineingelassen, wie viele andere. Mehr als 800 Menschen versammeln sich schließlich in der Kirche. Viele sogenannte Ehrengäste: Bundespräsident Joachim Gauck ist da, Kanzlerin Angela Merkel, eine großer Teil der Bundesregierung. Fraktionsvorsitzende, Abgeordnete aus dem Bundestag und dem Abgeordnetenhaus von Berlin.
Aber eben auch Augenzeugen, Helfer, Polizisten und Feuerwehrleute, Ärzte und Krankenschwestern, Seelsorger. Und erkennbar viele Muslime. Die Frauen mit Kopftüchern und Kindern auf dem Arm wollen Solidarität zeigen. Es ist ein starkes Zeichen.
Es wird gesungen, es wird gebetet
Geistliche aller großen Religionen, Christen, Juden und Muslime, gestalten die Gedenkstunde gemeinsam. Sie sind gekommen: "Um vor Gott unser Erschrecken zu tragen", sagt einer von ihnen. Es wird gesungen, es wird gebetet. Menschen fassen sich an die Hände und halten inne. Vereint in Trauer.
Der katholische Erzbischof Heiner Koch erinnert daran, dass es Nacht war, als der Terror über Berlin kam. Dass es Nacht ist in Aleppo und anderswo, wo der Schrecken des Krieges herrscht. Und dass es auch damals Nacht war, als "mitten in der Nacht Gott zum Menschen wurde". Aber auch daran, dass eben der Stern die Hoffnung gibt, dass in der Mitte der Nacht ein neuer Tag beginnt.
Berlins evangelischer Bischof Markus Dröge sagt: Berlin sei eine Wunde zugefügt worden. Und der Schmerz brenne. Aber "diese Kirche wird unbeirrt bezeugen, dass die Kraft der Versöhnung stärker ist als der Hass".
Der Segen ist gesprochen. Michael Müller geht zum Pult. Er will noch ein paar Worte sagen, mahnt, nicht das "weltoffene Berlin" aufzugeben. Und erklärt, "Juden, Christen und Muslime gehören zu dieser Stadt". Es sind richtige, wichtige Worte.
Aber als er danach noch lange steht, draußen in der Kälte, ohne Mantel, und sich die Menschen an ihn wenden, da zeigt sich, wie wichtig es ist, dass er da ist. Einfach da. Zum Trost. Und um getröstet zu werden. Damit die Wunde beginnen kann zu heilen.