Volksentscheide und Demokratie:Wer sind das Volk?

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Pegida-Demonstranten im Oktober in Dresden (Foto: dpa)

Es gibt Mehrheiten, die sind gegen Olympia. Es gibt Mehrheiten, die helfen Flüchtlingen. Und es gibt Mehrheiten, die laufen bei Pegida mit. Was ist denn nun wirklich das Volk?

Ein Kommentar von Johan Schloemann

Es hat wieder mal gesprochen: das Volk. In Hamburg hat es ein olympisches Spektakel abgelehnt. Genauer gesagt: Von der Hälfte der Wahlberechtigten, die bei der Abstimmung mitgemacht haben, hat wiederum etwas mehr als die Hälfte mit Nein votiert. Seit Tagen lecken jetzt die Verantwortlichen ihre Wunden. Und in Dresden haben die fremdenfeindlichen Demonstranten, wie inzwischen jede Woche, wieder mal in maßloser Übertreibung behauptet, "das Volk" zu sein.

Wer ist denn nun das Volk? Wer sich in seiner Umgebung umschaut, kann zum Beispiel feststellen: Es sind Leute, die Spaghetti essen oder hordenweise Glühwein mit außereuropäischen Gewürzen trinken. Aber als Ganzes ist das Volk im demokratischen Flächenstaat eine Fiktion. Es ist namenlos, nicht anzutreffen, es ist eine Gemeinschaft, die sich niemals und nirgendwo versammelt, nicht auf dem Marktplatz, noch nicht einmal auf Facebook.

Das Volk ist vielleicht der Souverän, aber als Souverän hat es sich auch nie, wie es in den Gründungsmythen immer so schön heißt, eine Verfassung gegeben. Schlaue Leute haben sich vielmehr eine Verfassung ausgedacht, welche die Mehrheit akzeptiert. Das Bundesverfassungsgericht hat es außerdem längst verworfen, das sogenannte Staatsvolk ethnisch oder kulturell zu bestimmen. Es definiert sich nur über die Staatsbürgerschaft. Auch wenn man ohne jene Elemente - also Geschichte, Kultur, Traditionen und Sprache - schwer auskommt, wenn man die Mehrheit einer Nation beschreiben will: Sie bleiben doch rechtlich und politisch ungreifbar wie eine Datenwolke. Erst recht, wenn sie sich durch Globalisierung und Einwanderung massiv verändern.

Das Volk als Ganzes ist eine Fiktion

Niemand kennt das Volk. "Demoskopie" klingt nicht von ungefähr weniger wie eine seriöse Wissenschaft als wie eine antike Orakeltechnik. Diese Unsicherheit, dieses Überraschungspotenzial taucht denn auch jetzt in vielen Reaktionen zum "Bürgerschaftsreferendum" in Hamburg auf. Damit wird ein Einwand bemüht, den seit jeher die klassische Demokratiekritik vorgebracht hat: In der "Pöbelherrschaft" sei das Volk wankelmütig, unberechenbar, anfällig für Demagogie.

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Man kann gewiss darüber streiten, ob solche Volksabstimmungen auf regionaler Ebene dem Gemeinwohl dienen. Dass situative Entscheidungen in Einzelfragen per se repräsentativer seien als die gewählten Abgeordneten und deren Mehrheit, ist zweifelhaft. Einfacher gesagt: Das Volk, das abstimmt, kann genauso viel oder wenig danebenliegen wie "die Politik", der es ihr Mandat gegeben hat. Plebiszitäre Politik kann auch zu mehr Kurzatmigkeit, Populismus und Medienabhängigkeit führen, also genau die Eigenschaften der politischen Klasse verstärken, denen man damit abhelfen wollte. Wer schon die Bürgerferne der Eliten beklagt, sollte sie als gegenseitige Entfremdung in den Blick nehmen: Auch die Mehrheit der Bürger erregt sich gerne kasuistisch und hält sich sonst von der Politik fern.

Allerdings darf man das auch nicht so strikt sehen. So ist der Mensch. Und der Philosoph Hermann Lübbe hat schon vor Jahren eine Art Pendelbewegung vorausgesagt: Wenn die Welt, wenn die Gesellschaft immer komplexer wird, dann bekommen einerseits Fachleute immer mehr Bedeutung - bis hin zur Expertenherrschaft -, andererseits gibt es auch immer mehr direkte Demokratie.

Die Volksabstimmungen sind, so gesehen, ein Zeichen der Zeit: Ihnen traut man die Kraft zu, das ganze Gewirr von Für und Wider ab und zu mit einem Schlag zu lichten. Bis es wieder zuwächst. Und selbst wem eher unwohl wird bei dem Gedanken an ein bundesweites Referendum, beispielsweise über den Länderfinanzausgleich oder über den Syrien-Einsatz, der mag doch zugestehen, dass die lokalen Plebiszite auch eine willkommene Durchlüftung bringen können.

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Wohldosiert erinnern sie die regionalen Politiker daran, dass das ominöse Volk nicht nur der größte Risikofaktor der Politik ist, sondern auch die größte Ressource staatlicher Legimität. Manchmal kann es guttun, ganz abgesehen vom Inhalt der Abstimmung, wenn auf diese Weise eine Atmosphäre von Vitalität, von bunter Widerständigkeit entsteht.

Was aber, wenn das Volk, wie bei Pegida, seine hässliche Seite zeigt? Das ist die eigentliche Probe der Demokratie. Mit dieser Ausformung des Wankelmuts des Volkes, so scheint es, geht man aber deutlich unbeholfener um. Als neulich ein AfD-Politiker in einer Talkshow die Deutschlandflagge herausholte, da hätte der danebensitzende Bundesjustizminister nicht seinen Ekel äußern sollen. Er hätte lieber sagen sollen: Geben Sie mal her, das ist nämlich auch unsere Flagge, mit der bekennt man sich zum Grundgesetz.

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Vielleicht wäre es besser, wenn die AfD endlich in den Bundestag käme

Das heißt: Die riskante Seite der Demokratie ist nur in den Griff zu bekommen, wenn man peinlich darauf achtet, dass auch missliebige Volksmeinungen im Rahmen der Verfassung geäußert werden können. Gerade dem Pack, wie es Sigmar Gabriel genannt hat, sind, noch so zähneknirschend, die Grundrechte von Meinungs- und Versammlungsfreiheit besonders souverän zu gewähren. Nur so kann man den Fremdenfeindlichen glaubhaft argumentativ entgegentreten. Und nur so beweisen, dass sie nicht "das Volk" sind.

Die Volksherrschaft in Deutschland ist ja eine, die den Einfluss des Volkes auf vielerlei Weise herausgefiltert hat: durch Parlamente, Parteien und ein Rechtssystem ohne Schuldsprüche von Geschworenen, also ohne Volksjurys. So hat das stabilitätsversessene Land das Risiko, das Wackelige der Demokratie, das Unfassbare des Volkes lange vergessen. Die Demokratie hat aber eben eine offene Flanke, das ist ihr Preis - und die Garantie, dass sie demokratisch bleibt.

Vielleicht wäre es besser, wenn die AfD oder eine ähnliche "Volks"-Partei endlich in den Bundestag käme. Klingt frivol? Nein, es böte die Chance eines offenen Schlagabtauschs. Demokratische Gegenwehr ist nicht: ignorieren oder verbieten. Sondern republikanische Wachsamkeit, Argumente, Gegendemonstrationen. Und wenn die Grenze der Strafbarkeit überschritten wird, dann sagt die Demokratie im Namen des Volkes: Ich hab' Polizei.

© SZ vom 05.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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