Reaktionen:Schweizer Votum verstört Europa

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Das Schweizer Referendum wurde von einer massiven Plakatkampagne begleitet (Szene in Zürich Hauptbahnhof) (Foto: Imago Stock&People)

Europas Politiker hadern mit dem schweizerischen Votum für eine Begrenzung der Zuwanderung aus der EU. Es verletze das Prinzip des freien Personenverkehrs zwischen der EU und der Schweiz, teilt die EU-Kommission mit. Kanzlerin Merkel befürchtet "erhebliche Probleme". Die Schweizer Wirtschaft fürchtet beträchtliche Nachteile im Handel.

Die Europäische Union hat angesichts der engen Wirtschaftsbeziehungen zur Schweiz das Votum der Eidgenossen für eine Abschottung ihres Landes kritisiert. Eine Einschränkung der Zuwanderung für Ausländer verletze das Prinzip des freien Personenverkehrs zwischen der Europäischen Union und dem Alpenland, teilte die EU-Kommission in Brüssel mit.

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), ermahnte die Schweizer, sie könnten nicht nur die Vorteile des großen europäischen Binnenmarktes für sich in Anspruch nehmen. Die Deutschen stellen mit etwa 300 000 einen großen Teil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz. Die Schweizer hatten sich am Sonntag in einer Volksabstimmung überraschend dafür ausgesprochen, die Zuwanderung aus der EU zu begrenzen. Mit 50,3 Prozent fiel die Zustimmung für die Initiative der national-konservativen Schweizer Volkspartei (SVP) "Gegen Masseneinwanderung" denkbar knapp aus.

Die Schweiz muss mit EU-Maßnahmen gegen die Auswirkungen der Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" rechnen: "Wir können das nicht widerspruchslos hinnehmen", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, Elmar Brok (CDU), dem Kölner Stadt-Anzeiger. Die EU-Kommission erklärte, sie bedaure den Ausgang der Volksabstimmung und werde "die Folgen dieser Initiative für die Gesamtbeziehungen analysieren".

"Das ist schon ein Schlag", sagte Brok. Die Schweiz genieße große Vorteile, "weil sie ein Stückchen in die Europäische Union integriert ist" und brauche "qualifizierte Arbeitskräfte". In diesem Sinne nannte Brok den Ausgang der Abstimmung "nicht verständlich".

Von Seiten der EU-Kommission wurde darauf hingewiesen, dass die sieben bilateralen Abkommen über Bereiche wie Freizügigkeit, Verkehr, Landwirtschaft, Forschung und öffentliche Ausschreibungen aus dem Jahr 1999 rechtlich miteinander verknüpft seien und nicht einzeln aufgekündigt werden könnten. In einer offiziellen Erklärung teilte die Kommission mit, der Volksentscheid verletze das "Prinzip des freien Personenverkehrs".

Lehren für Deutschland?

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet durch das Votum große Probleme. "Die Bundesregierung nimmt das Ergebnis dieser Volksabstimmung zur Kenntnis und respektiert es, es ist aber durchaus auch so, dass aus unserer Sicht dieses Ergebnis erhebliche Probleme aufwirft", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Es sei an der Schweiz, auf die Europäische Union zuzugehen und ihr darzulegen, wie sie mit dem Ergebnis umgehen wolle. Es würden schwierige Gespräche zu führen sein. "Unser Interesse muss es doch sein, das Verhältnis EU - Schweiz so eng wie möglich zu bewahren."

Ähnlich äußerte sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. "Das wird eine Menge Schwierigkeiten für die Schweiz verursachen", sagte er in der ARD. Zugleich forderte er die deutsche Politik auf, Lehren aus dem Schweizer Ja für eine Begrenzung der Zuwanderung zu ziehen. "Es zeigt natürlich ein bisschen, dass in dieser Welt der Globalisierung die Menschen zunehmend Unbehagen gegenüber einer unbegrenzten Freizügigkeit haben", sagte der CDU-Politiker am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin". Er fügte hinzu: "Ich glaube, das müssen wir alle ernst nehmen."

Paris sendete eine klare Botschaft an die Eidgenossen. Frankreichs Außenminister Laurent Fabius stufte die Abstimmung als "eine schlechte Nachricht" für Europa ein. Gegenüber dem Sender RTL sagte er: "Das ist ein besorgniserregendes Votum, weil es bedeutet, dass die Schweiz sich auf sich selbst zurückziehen will". Es sei auch "paradox", weil die Schweiz 60 Prozent ihres Außenhandels mit der Europäischen Union abwickle.

Europa reagiert verschnupft

Fabius kündigte an, die Beziehungen seines Landes zur Schweiz überprüfen zu wollen. Zahlreiche Franzosen arbeiten in dem Nachbarland, 104.000 Franzosen leben dort.

Der Luxemburger Außenminister appellierte an die EU-Partner, keine faulen Kompromisse einzugehen. Die Europäische Union dürfe nicht nachgeben, und die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus der Europäischen Union "nicht verunstaltet und verwässert werden", sagte Jean Asselborn im SWR.

Die Schweiz müsse wissen, dass der privilegierte Zugang zum EU-Binnenmarkt ohne Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht möglich sei. Scharf kritisierte Asselborn die Schweizerische Volkspartei, die die Volksabstimmung angestoßen hatte. Der Applaus der europäischen Rechtspopulisten um Le Pen, Strache und Wilders zeige, in welcher Gesellschaft sich die Partei nun befinde.

Aus Enttäuschung über die Niederlage gingen in Zürich, Bern und Luzern am Abend Hunderte Menschen auf die Straßen, um weiterhin für eine offene Schweiz zu werben.

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Der Schweizer Daten-Blogger Martin Grandjean hat das Ergebnis der Abstimmung in einer Grafik aufgearbeitet. In einem Koordinatensystem stellt er dar, wie die Mehrheit der verschiedenen Kantone entschieden hat und setzt dazu in Relation, wie hoch ihr jeweiliger Ausländer-Anteil ist.

Grandjean kommt dabei zu folgendem Ergebnis: Alle Kantone, die mehrheitlich mit "Ja" gestimmt haben (also gegen die Masseneinwanderung) liegen mit ihrem Ausländeranteil unter dem nationalen Bevölkerungsdurchschnitt. Dabei gibt es zwei Ausnahmen: der Kanton Jura, in dem mehrheitlich mit "Nein" gestimmt wurde und das einen niedrigen Ausländeranteil hat, sowie das Tessin, das mehrheitlich mit "Ja" gestimmt hat und wo mehr Ausländer leben als im schweizerischen Durchschnitt. Der Blogger Grandjean stellt daraufhin die Frage: Hat die Angst vor einer Überfremdung mit Unwissenheit zu tun?

Sorge in der Schweizer Wirtschaft

Der Erfolg der Initiative gegen "Masseneinwanderung" löste in der schweizerischen Wirtschaft große Sorgen aus. "Wir werden jetzt in eine Phase der Unsicherheit einbiegen", sagte der Präsident des Schweizer Arbeitgeberverbands, Valentin Vogt, im Schweizer Fernsehen. Unsicherheit sei für die Wirtschaft schlimmer als schlechte Nachrichten. Die stark exportorientierte Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie fürchtet nach Angaben vom Sonntagabend beträchtliche Nachteile im Handel mit der EU. Die Politik müsse alles daran setzen, dass die Verträge mit der EU intakt blieben.

Der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, bezeichnete das Referendum als schweren Fehler. "Was Europa als Letztes braucht, sind neue Mauern", sagte Riexinger Handelsblatt Online. Als drastische Konsequenz aus dem Votum forderte er die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen. "Wenn die Schweiz ihre Grenze für Menschen schließt, dann ist es nur gerecht, wenn auch das Geld draußen bleibt", sagte Riexinger dem Blatt. "Die Schweiz kann sich nicht ernsthaft auf den Standpunkt stellen, dass sie sich gegen Zuwanderer abschotten kann, und gleichzeitig das Steuerfluchtgeld aus ganz Europa mit offenen Armen empfängt", argumentierte Riexinger.

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