Friedensvertrag von Versailles:"Wir kennen die Wucht des Hasses"

Deutsche Delegation für die Friedensverhandlungen in Versailles, 1919

Die Mitglieder der deutschen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Versailles, v.li.: Prof. Walther Schücking, Reichspostminister Johann Giesberts, Reichsjustizminister Otto Landsberg, der Leiter der deutschen Delegation Reichsminister des Auswärtigen Dr. Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, Präsident der preußischen Landesversammlung Robert Leinert, Dr. Karl Melchior.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

1919 unterzeichnen die besiegten Deutschen unterzeichnen den Versailler Vertrag, 1920 tritt er in Kraft - der Erste Weltkrieg ist beendet. Die junge Weimarer Republik wird sehr schwer daran tragen - und der nächste Krieg ist nur zwei Jahrzehnte entfernt.

Von Robert Probst

Adolf Gröber wagt Unerhörtes. Am 22. Juni 1919 debattiert die Nationalversammlung in Weimar hitzig über den Friedensvertragsentwurf von Versailles.

Der neue Reichsministerpräsident Gustav Bauer (SPD) hat gerade von einem "Unrechtsfrieden" gesprochen. Letztlich sehen das alle Deutschen so. Gleichwohl plädiert Bauer dafür, den Vertrag zu unterschreiben. Die Franzosen stehen schon bereit, bei einem Nein sofort in Deutschland einzumarschieren. "Ein Nein wäre nur ein kurzes Hinausschieben des Ja! Unsere Widerstandskraft ist gebrochen; ein Mittel der Abwendung gibt es nicht", sagt Bauer.

Und was macht Adolf Gröber, Vorsitzender der Zentrumsfraktion - und einer der wenigen Verbündeten der SPD in diesen chaotischen und emotional aufgeladenen Tagen? Er zählt die Vorzüge des Vertrags auf. Vorzüge, die damals kaum jemand wahrzunehmen bereit ist.

Der Vertrag ist hart - aber er belässt der jungen Republik gute Entwicklungsmöglichkeiten

"Der Friede bringt Hunderttausende von Gefangenen in die deutschen Familien alsbald zurück", sagt also der vollbärtige Württemberger Gröber. "Durch den Frieden wird die Hungersnot beendigt."

Gemeint ist hier die alliierte Blockade, die offiziell auch über den Waffenstillstand vom 11. November 1918 weiter besteht und das Reich von der Zufuhr dringend benötigter Lebensmittellieferungen weitgehend abschneidet - mit katastrophalen Folgen.

Und dann kommt Gröber zu zwei noch wichtigeren Punkten: "Der Friede kann uns allein die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Wiederaufbaus für Deutschland bringen." Und: "Viertens bietet uns der Frieden auch die Möglichkeit, unsere deutsche Einheit, wenn auch im geschwächten Umfang, aufrechtzuerhalten."

Adolf Gröber sieht klarer als die meisten Deutschen damals, wie man den Vertrag auch lesen kann: Er ist hart - aber er belässt der jungen Republik gute Entwicklungsmöglichkeiten. Das Habsburgerreich und das Osmanische Reich sind zerfallen, das einstige Romanow-Reich durch Revolution und Kriegsniederlage gelähmt, alle drei scheiden als Wirtschaftskonkurrenten aus; und sogar eine potenzielle europäische Großmacht bleibt das Deutsche Reich - im Gegensatz zu 1945.

Oder anders gesagt: Der Vertrag ist nicht hart genug, um die Deutschen auf Dauer vom erneuten Machtstreben abzuhalten.

Am Ende der Debatte votieren 237 Abgeordnete von SPD, USPD, die Mehrheit des katholischen Zentrums und einige Mitglieder der liberalen DDP für die Unterschrift, alle anderen Fraktionen - insgesamt 138 Abgeordnete - lehnen ab.

Diese Männer und Frauen, die für den Erhalt des Nationalstaats stimmen, wird alsbald von rechts der perfide Vorwurf treffen, sie hätten das Vaterland verraten. Die Schuld wird wieder denen zugewiesen, die seit 1871 als "innere Reichsfeinde" gelten: Linken und Katholiken. Zuvor schon ist nach dem Waffenstillstand die Lüge vom "Dolchstoß" aufgekommen, auch sie trifft vor allem Sozialdemokraten.

Die Revolution habe das im Felde unbesiegte Militär des Kaiserreichs von hinten gemeuchelt, lautet die weit verbreitete Verschwörungstheorie. Im Osten habe man schließlich den Krieg gewonnen, argumentieren die Militaristen - und haben dabei offenbar schnell vergessen, welch überharte Bedingungen man in Brest-Litowsk den Russen diktiert hatte.

Frieden von Brest-Litowsk

Nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 und dem Sieg der Bolschewiki im Herbst zerfällt die staatliche Ordnung in Russland rapide, die Disziplin der Armee löst sich auf. Die deutsche Reichsleitung ist daher stark an einem Separatfrieden mit den neuen Machthabern interessiert, zumal im Jahr 1917 die USA in den Weltkrieg eingetreten sind. Die Oberste Heeresleitung hofft so, den Zweifrontenkrieg schnell zu beenden und die Entscheidung an der Westfront suchen zu können. Die verzweifelte Lage der neuen Machthaber in Petrograd macht es den Deutschen leicht, harte Bedingungen zu diktieren, die Armee kann teilweise ungehindert nach Osten vorrücken.

Am 3. März 1918 wird der Vertrag in Brest-Litowsk unterzeichnet. Russland muss unter anderem Finnland, den baltischen Staaten, Polen und Georgien die Unabhängigkeit gewähren. Russland verliert rund ein Viertel seines europäischen Machtbereichs, gut ein Drittel seiner Bevölkerung, über die Hälfte seiner industriellen Anlagen sowie einen Großteil seiner wichtigsten Rohstoffquellen. Schnell ist vom deutschen "Raubfrieden" die Rede. Der Waffenstillstandsvertrag mit den Alliierten vom 11. November 1918 und der Vertrag von Versailles erklären den Vertrag von Brest-Litowsk für ungültig.

Zur Schmähung "Novemberverbrecher" kommt nach 1919 das böse Wort vom "Erfüllungspolitiker"; gemeint sind Politiker, die die Bedingungen des "Schandfriedens von Versailles", vor allem die Reparationszahlungen, umsetzen. All dies ist eine große Belastung für die junge Republik - wenn auch bei weitem nicht die einzige.

Dabei haben fast alle Deutsche den 7. Mai ähnlich erlebt. An diesem Tag überreichen die Alliierten der deutschen Delegation in Paris den Vertragsentwurf. Die Reaktion im Reich ist einhellig von links bis rechts: unannehmbar. Der Schock ist größer noch als beim Waffenstillstand (auch damals war das Volk völlig unvorbereitet gewesen). Eine Welle des Protests rollt durch Deutschland, an vorderster Spitze agitieren die Regierungsvertreter.

Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann (SPD) ruft am 12. Mai in einer Versammlung: "Dieser schauerliche und mörderische Hexenhammer, mit dem einem großen Volke das Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit, die Zustimmung zur erbarmungslosen Zerstückelung abgepresst werden soll, dies Buch darf nicht zum Gesetzbuch der Zukunft werden."

Seine Suada gipfelt in dem berühmten Satz: "Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?"

Für einen kurzen Moment scheint von diesem dicken Papier-Konvulut eine einigende Wirkung auszugehen - nach all den blutigen Kämpfen, einem Bürgerkrieg nicht unähnlich, und der Niederschlagung der Räterepublik in München im Frühjahr.

Doch dieser Anti-Versailles-Konsens, schreibt der Historiker Eckart Conze, "richtete die Deutschen auf ein negatives Ziel aus, er entfaltete keine konstruktive Wirkung". Weder trägt er bei zur Überwindung politischer und sozialer Gegensätze, noch zur Stabilisierung der fragilen Republik und schon gar nicht zur Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie. Doch die Siegermächte machen schnell klar: Entweder Unterschrift oder Einmarsch. Aber der Hass der zahllosen Republikgegner findet hier neue Nahrung.

Überhaupt ist "Hass" ein viel gebrauchtes Wort in diesen dramatischen Wochen der Friedenskonferenz. Das ist neu, denn nichts liegt der Diplomatie ferner als Emotionen. Und doch werden sie in Paris gezielt eingesetzt, vor allem von den gastgebenden Franzosen.

Am 18. Januar hat die Konferenz begonnen - ganz gezielt zum selben Datum, an dem 1871 im Spiegelsaal von Versailles das deutsche Kaiserreich proklamiert worden war, nicht zuletzt als demütigende Geste nach dem Sieg über Frankreich. Erst vier Monate später bekommen die unterlegenen Deutschen präsentiert, was man von ihnen verlangt. Die deutsche Delegation wird mit Sonderzügen durch völlig zerstörte Regionen in Frankreich gefahren, damit sie mit eigenen Augen sieht, was der totalisierte 52 Monate dauernde Weltkrieg angerichtet hat.

Frankreichs greiser Premierminister George Clemenceau, Vorsitzender der Konferenz, erklärt den Deutschen am 7. Mai ganz unverblümt, worum es geht: "Meine Herren Delegierten des Deutschen Reiches! Es ist hier weder der Ort noch die Stunde für überflüssige Worte. (...) Die Stunde der Abrechnung ist da: Sie haben uns um Frieden gebeten. Wir sind geneigt, ihn Ihnen zu gewähren." Angesichts der Opfer des Krieges sei man entschlossen, "sämtliche uns zu Gebote stehende Mittel anzuwenden, um jede uns geschuldete berechtigte Genugtuung zu erlangen".

Woodrow Wilsons 14 Punkte

Gundsätze für eine Friedensordnung nach dem Ende des Weltkrieges, vorgetragen von US-Präsident Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 (Paraphrase):

1 Abschaffung der Geheimdiplomatie

2 Freie Seeschiffahrt in Frieden und Krieg

3 Beseitigung von Schranken und Ungleichheiten im Handelsverkehr

4 Abrüstung

5 unparteiische Regelung aller kolonialen Ansprüche

6 Räumung aller besetzten Gebiete Russlands durch die Mittelmächte

7 Wiederherstellung Belgiens

8 Räumung des besetzten französischen Territoriums und Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich

9 Bereinigung der italienischen Grenzen entsprechend klar erkennbarer Nationalitätsgrenzen

10 Autonome Entwicklung der Völker Österreich-Ungarns

11 Räumung durch die Mittelmächte und Restitution Rumäniens, Serbiens (mit Zugang zum Meer) und Montenegros

12 Autonome Entwicklung der Völker des Osmanischen Reiches und Öffnung der Dardanellen

13 Errichtung eines unabhängigen polnischen Staates unter Einschluss aller Gebiete mit unzweifelhaft polnischer Bevölkerung und mit freiem Zugang zur See

14 "Es muß zum Zwecke wechselseitiger Garantieleistung für politische Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkeit der großen wie der kleinen Staaten unter Abschluß spezifischer Vereinbarungen eine allgemeine Gesellschaft von Nationen gebildet werden."

Der Leiter der deutschen Delegation, Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, ein früherer kaiserlicher Botschafter, antwortet ebenso emotional - und bleibt dabei auch noch sitzen, was die Alliierten als Beweise dafür nehmen, dass die arroganten Deutschen nichts gelernt haben:

"Wir täuschen uns nicht über den Umfang unserer Niederlage, den Grad unserer Ohnmacht. Wir wissen, dass die Gewalt der deutschen Waffen gebrochen ist; wir kennen die Wucht des Hasses, die uns hier entgegentritt, und wir haben die leidenschaftlichen Forderungen gehört, dass die Sieger uns zugleich als Überwundene zahlen lassen und als Schuldige bestrafen wollen."

Die Deutschen bekommen eine Frist von zwei Wochen für schriftliche Einlassungen gesetzt, mündliche Verhandlungen sind nicht vorgesehen.

Die Hoffnung der Deutschen auf einen "gerechten Frieden"

Geradezu niederschmetternd wirkt der Artikel 231, nach dem das Reich und seinen Verbündeten vermeintlich die Verantwortung für den Kriegsbeginn 1914 angelastet wird. Daraus wollen die Alliierten zunächst lediglich die Legitimation zu hohen - vorerst noch unbezifferten - Reparationsleistungen (auch von den übrigen Mittelmächten) ableiten.

In Deutschland werden die Artikel jedoch als eine Aufbürdung der alleinigen Schuld an diesem Weltenbrand empfunden - den man ja bis in den Herbst 1918 von der Militärführung als "Verteidigungskrieg" verkauft bekommen hatte.

Zudem wird die Auslieferung von Kaiser Wilhelm II. und den Kriegsverantwortlichen gefordert - was nie passieren wird, aber als weitere Demütigung empfunden wird.

In einer Mantelnote vom 16. Juni formulieren die Alliierten den Vorwurf dann noch schärfer und mit moralischer Aufladung: "Nach Anschauung der alliierten und assoziierten Mächte ist der Krieg, der am 1. August 1914 zum Ausbruch gekommen ist, das größte Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Freiheit der Völker gewesen, welches eine sich für zivilisiert ausgebende Nation jemals mit Bewusstsein begangen hat."

Artikel 231 des Vertrages von Versailles

"Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben."

Das klingt nun ganz und gar nicht mehr nach einem "gerechten Frieden", wie ihn der US-Präsident Woodrow Wilson noch im Herbst 1918 versprochen hat.

Genau auf so einen Frieden hoffen die Deutschen - Bürger und Politiker gleichermaßen - aber seit Monaten: auf gleichberechtigte, offene Verhandlungen, auf eine "Neuordnung der Welt", die das Existenzrecht Deutschlands nicht gefährdet, auf die Möglichkeit, das "Selbstbestimmungsrecht" auch anwenden zu dürfen auf die Gebiete im Osten, die der neu gegründete polnische Staat für sich beansprucht.

Man hat doch die Voraussetzungen dafür erfüllt: sich der wilhelminischen Autokraten, Militaristen und Siegfrieden-Fraktion (vermeintlich) entledigt und die Demokratie erkämpft.

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