Gruppenvergewaltigung in Mülheim:"Die Eltern kümmern sich nicht"

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Der Krisen-Kreisverkehr rund um die Eppinghofer Straße in Mülheim an der Ruhr. (Foto: Hans Blossey/SZ Photo)

Die jungen mutmaßlichen Vergewaltiger von Mülheim an der Ruhr kommen aus zwei abgehängten Vierteln. Die Bewohner fürchten die zunehmende Verrohung der Gesellschaft.

Von Jana Stegemann und Christian Wernicke, Mülheim an der Ruhr

Im Haus am Ende der Straße hat Erika Lieske bessere Zeiten erlebt. Seit einem halben Jahrhundert wohnt die alerte alte Dame hier im Erdgeschoss, zusammen mit Hans, ihrem Mann, der immer bei Mannesmann malochte. "Gleich da drüben", sagt die 78-Jährige und zeigt auf die andere Straßenseite, wo der Müll liegt und ein paar Bäume den Blick verstellen auf die riesigen Hallen der Röhrenwerke.

Man kannte sich in Mülheim-Styrum, dem Arbeiterviertel: "Jeder hat gegrüßt." Dann jedoch sei vor 30 Jahren die Krise über ihre Stadt gekommen, erinnert sich Lieske: "Die Nachbarn zogen weg, 16 Jahre lang lebten wir hier im Haus allein." Irgendwann hat dann ein Türke das Nebenhaus gekauft, und vor etwa zehn Jahren zogen neue Mieter ein. Ausländer zumeist, unter ihnen Bulgaren. Erika Lieske sagt, sie komme mit den meisten Nachbarn gut aus. Nur die Familie nebenan, wo nun die Rollläden geschlossen sind, sei schwierig. Lieske hat den Vater manchmal gesehen, wenn ihn der türkische Vermieter wieder für Gelegenheitsarbeiten abholte. "Der Kerl ist laut, immer aggressiv." Da sei es eben "kein Wunder", dass der 14-jährige Sohn "frech und fast nie zu Hause" gewesen sei.

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Seit Montagabend kommt der Nachbarssohn gar nicht mehr nach Hause. Er sitzt in Untersuchungshaft: Dem Jungen wird vorgeworfen, er habe zusammen mit vier Freunden - zwei 14, zwei zwölf Jahre alt - eine junge Frau vergewaltigt und geschlagen. Ihre Taten sollen die Jungen auch gefilmt haben. Die Polizei spricht von "massiver Gewalt", die 18-Jährige musste im Krankenhaus behandelt werden, befindet sich nun bei ihrer Familie und wird von den Behörden intensiv betreut. Das was am Freitagabend voriger Woche in einem Mülheimer Wäldchen passiert sein soll, schockiert seither Deutschland. Einige Politiker verlangten die Herabsetzung der Strafmündigkeit. Die Stadt Mülheim prüfte, ob sie die fünf Familien ausweisen kann, zurück nach Bulgarien. Da sie alle Arbeitsverträge vorgelegt haben, können sie jedoch zum jetzigen Zeitpunkt laut EU-Recht nicht zurückgeführt werden.

Insgesamt leben 616 Bulgaren in Mülheim. Der 14-jährige Inhaftierte war kein Unbekannter: Schon als Kind soll er geklaut haben, schon als Minderjähriger werden gegen ihn zwei Strafanzeigen wegen sexueller Belästigung aktenkundig. Vor zehn Monaten soll er mit Freunden eine 15-Jährige auf einem Mülheimer Spielplatz eingekesselt und sexuell belästigt haben. Die Verfahren wurden wegen Strafunmündigkeit eingestellt. Im Herbst 2018 treffen sich Schule, Jugend- und Sozialamt. Sie beschließen, den Jungen von Oktober 2018 an ins freiwillige Kriminalpräventivprogramm von NRW "Kurve kriegen" aufzunehmen. Offenbar ohne Wirkung.

Die Stadt versichert, man habe alles präventiv Mögliche getan. Eine solche Tat verhindern könne letztlich niemand. Mülheims Mittel sind finanziell begrenzt: Zwei Milliarden Euro Altschulden plagen das Rathaus. Vor Kurzem erwog der Stadtrat sogar, Straßenbahn- und Buslinien einzustellen. Aus Kostengründen. 30 Millionen Euro jährlich würde die Instandsetzung der Mülheimer Straßen verlangen, nur 2,5 Millionen Euro stehen zur Verfügung. "Ja, wir vernachlässigen unsere Straßen", gesteht Stadtsprecher Volker Wiebels, "aber nicht die Schulen, die sind takko." Es gebe zwar Probleme, weshalb sich die Stadt nahe der verrufenen Eppinghofer Straße eine Außenstelle des Stadtteilmanagements leiste. Hinzu kommt ein einziger Streetworker. "Wir haben keine Ghettoisierung in Mülheim", versichert Wiebels.

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Das sieht Bernd Nierhaus ganz anders. "Uns hier haben die Behörden doch längst vergessen", schimpft der kräftige Mann. Der 59-Jährige mit Bürstenschnitt und Schnauzer sitzt im Rollstuhl an der Sandstraße vor dem Laden von Rolli Rockers Sprösslinge e.V. Diesen "Verein, der nicht nur redet" (so das Motto überm Schaufenster) hat der frühere Spediteur und Lkw-Fahrer vor zehn Jahren gegründet. Neben ihm sitzen Heinz, der Deutsche, Ludmilla aus Russland und Mehmet aus Libanon (Namen geändert). Sie nicken, während Nierhaus die Lage beschreibt. "Wir sehen hier jeden Tag die Verrohung der Gesellschaft", sagt er, "die Eltern kümmern sich nicht, und die Kids bauen Scheiße." Nierhaus hebt den Zeigefinger: "Deutscher oder Ausländer ist egal - da gibt's keine Grenzen!"

Vom Sehen will Nierhaus alle fünf Beschuldigten kennen. Er weiß, dass früher einer der Verdächtigen nur 150 Meter entfernt wohnte, hoch oben überm "Barbershop Babylon", gleich am Rondell der Eppinghofer Straße. Dem Krisen-Kreisverkehr. Ludmilla warnt, als Frau dürfe man nicht abends über den Spielplatz in der Charlottenstraße gehen: "Da sitzen die Männer und saufen, morgens findest du die Spritzen der Junkies." Mehmet berichtet, welche Läden am Platz auch Drogen verticken ("Jeder hier weiß, wo es was gibt - auch die Kids.") Und er erzählt, was passiert, wenn ein Halbstarker seine 17-jährige Tochter angemacht hat: "Den knöpf ich mir selbst vor." Keine Polizei? Mehmet winkt ab: "Die kommt eh nicht." Also packen sie selbst an. Die "Rolli Rockers" betreiben eine Kleiderkammer, sammeln Spielzeug, organisieren mit Spenden drei Wochen Zeltlager für 180 Euro pro Kind. Fast jeder zweite Haushalt (43 Prozent) im Quartier lebt von Hartz IV. Drinnen im Laden hängt ein Foto von Hannelore Kraft: 2016, als die Sozialdemokratin noch NRW-Ministerpräsidentin war, kam sie mal vorbei, sie ist bis heute Landtagsabgeordnete für Mülheim. "Lange her", sagt Nierhaus, "ich wähl' nicht mehr - niemanden!"

Das Viertel am Kreisverkehr ordnet sich selbst, immer wieder. Deutschen und Türken gehören die meisten Gebäude. Die Bulgaren kamen als Vorletzte, ihr Platz auf der sozialen Hühnerleiter ist noch weit unten. Unter ihnen werden nur die Schwarzafrikaner eingereiht. "Von den Typen handeln viele mit Drogen", erzählt ein türkischer Friseur. Immerhin, inzwischen fahre die Polizei mehr Kontrolle - "sonst wäre das hier schlimmer als in einer Apotheke."

© SZ vom 13.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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