Pull-Effekt:Hat Friedrich Merz recht?

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Junge geflüchtete Ukrainer stehen in einem Containerdorf in Berlin-Tempelhof zusammen. (Foto: Carsten Koall/AFP)

Flüchtlinge aus der Ukraine erhalten seit Juni mehr Geld als Asylbewerber. Der CDU-Chef sagt, das lockt sie an. Die Bundesregierung weiß da offenbar mehr.

Von Nina von Hardenberg, München

Wohin wenden sich Menschen, die vor Bomben und Krieg aus ihrer Heimat fliehen? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Die Höhe der im Zielland gezahlten Sozialleistungen aber ist - anders als CDU-Chef Friedrich Merz vermutete - nicht der entscheidende Faktor. Darüber ist sich nicht nur die Fluchtforschung einig. Zu diesem Schluss kommt im Fall der Ukraine auch eine aktuelle Analyse des Bundesinnenministeriums.

Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag hatte Ende September mit einer Äußerung zum angeblichen "Sozialtourismus" von Ukraine-Flüchtlingen für Empörung gesorgt. Merz entschuldigte sich später für seine Wortwahl. Seine Kritik an dem seiner Meinung nach sehr großen sozialen Netz in Deutschland, das angeblich Flüchtlinge und Migranten erst richtig anziehe, wiederholte Merz aber später.

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Die Behauptung des CDU-Chefs vom angeblichen "Sozialtourismus" ukrainischer Kriegsflüchtlinge ist einfach nur schäbig - halbherzige Entschuldigung hin oder her. Und das Kalkül dahinter ist nur allzu durchsichtig.

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Der CDU-Chef stört sich an einer Änderung: Hatten Ukraine-Flüchtlinge in Deutschland anfangs nur Anspruch auf die niedrigeren Sätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, erhalten sie seit Juni - wie alle anerkannten Flüchtlinge in Deutschland - Grundsicherung. Für Kinder und erwerbsfähige Erwachsene bedeutet das Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, also Hartz IV. Ältere Menschen bekommen Grundsicherung im Alter entsprechend dem Sozialgesetzbuch XII.

Für die Geflüchteten bringt der Wechsel neben etwas mehr Geld vor allem praktische Vorteile. Sie werden jetzt aktiv von den Arbeitsämtern bei der Jobsuche unterstützt. Großen Einfluss auf die Fluchtbewegung nach Deutschland hat diese Änderung nach einer Analyse des Bundesinnenministeriums indes bislang nicht. Die Zahl der ankommenden Ukrainer sinkt vielmehr seit Wochen: "Der Trend des abnehmenden Ankunftsgeschehens ist ungeachtet der Gewährung von SGB II bzw. XII-Leistungen weiterhin intakt", heißt es in einem Bericht, den das Ministerium Ende September dem Innenausschuss des Bundestages zuschickte, er liegt der Süddeutschen Zeitung vor.

Schon seit April kommen deutlich weniger Ukrainer

"Erfreulich klare Töne" aus dem Bundesinnenministerium seien das, sagte die fluchtpolitische Sprecherin der Linken, Clara Bünger: "Die immer wieder vorgebrachte, aber unbelegte Behauptung, die Höhe der Sozialleistungen in Deutschland stelle angeblich einen Pull-Faktor dar, ist falsch."

Die Analyse des Ministeriums betrachtet die Zahl der von der Bundespolizei an der Grenze kontrollierten Ukrainer. Das sind vor allem jene Geflüchteten, die mit der Bahn oder in gesondert eingesetzten Bussen kommen. Es sind keineswegs alle nach Deutschland einreisenden Ukrainer, an der Zahl lässt sich dennoch ein Trend ablesen: In den ersten Monaten kamen sehr viele. Seit April schon kommen deutlich weniger.

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Daran änderte sich auch nichts, als zwei Informationen öffentlich wurden: Weder als am 7. April bekannt wurde, dass die höheren Sätze gezahlt werden sollen, noch als dies zum Stichtag 1. Juni eingeführt wurde, kamen erkennbar mehr Ukrainer.

"Sozialgesetze sind für Migrationsbewegungen irrelevant", erklärt Olaf Kleist vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Wer vor Waffengewalt fliehe, versuche in der Regel, nah an dem alten Wohnort Zuflucht zu finden. Über alle Konflikte hinweg zeige sich, dass zwei Drittel aller Vertriebenen im eigenen Land blieben. Wer die Heimat verlässt, bleibt zumeist in Nachbarstaaten. Im Falle Syriens etwa waren das die Türkei, Libanon und Jordanien.

Wenn Geflüchtete dennoch in entferntere Länder ziehen, dann zumeist, weil sie dort Freunde oder Familie haben. Doch auch die ökonomische Situation oder das Ansehen des Staates als sicheres Land spielten eine Rolle.

Zu diesem Schluss kommt auch der Bericht des Ministeriums. Ein komplexes Zusammenspiel individueller Motive entscheide über die Frage, wohin sich ein Mensch auf der Flucht wende. Umfragen des UNHCR unter Kriegsvertriebenen aus der Ukraine scheinen dies zu bestätigen. Demnach plant die Mehrzahl der Geflüchteten in ihrem derzeitigen Aufnahmeland zu bleiben: Sozialleistungen hin oder her.

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