Krieg in der Ukraine:Warum Selenskij Putin "Energieterror" vorwirft

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Der Bahnhof in Cherson gehört zu den wenigen Orten in der Stadt, wo es noch Strom gibt - zum Beispiel, um Handys aufzuladen. (Foto: Genya Savilov/AFP)

Große Teile der Ukraine sind nach einer neuen Welle russischer Bombenangriffe ohne Strom. Tausende Wärmepunkte stehen im Land bereit, doch bei Weitem nicht genug.

Von Florian Hassel, Warschau

Zehn bis zwölf Tage würden die Spezialisten der Ukraine benötigen, um das seit Anfang Oktober von gut einem halben Dutzend russischer Raketenwellen weithin zerstörte Energiesystem halbwegs zu reparieren: So schätzte Anfang dieser Woche Oleksandr Chartschenko, Direktor des Kiewer Forschungszentrums für die Energieindustrie.

Doch die Ukraine bekam keine zehn oder gar zwölf Tage: Denn am Mittwoch ließ Wladimir Putin 67 weitere Marschflugkörper, Raketen und Drohnen auf die Ukraine abfeuern, so der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj. 51 Raketen und fünf Drohnen seien von der Luftabwehr abgeschossen worden - die übrigen trafen.

In großen Teilen der Ukraine und des Nachbarlands Moldau fiel die Stromversorgung aus. In Kiew, das Bürgermeister Vitali Klitschko zufolge das Ziel von gleich 31 Raketen war, von denen 21 abgefangen wurden, bekamen am Donnerstagmittag indes schon drei Viertel der Stadt wieder Strom; die ebenfalls ausgefallene Wasserversorgung sei bereits wiederhergestellt.

Auch in Charkiw im Osten der Ukraine oder in Dnipro arbeiteten Ingenieure und Arbeiter fieberhaft daran, die weithin ausgefallene Stromversorgung wiederherzustellen. Am Donnerstagabend sollten auch drei Atomkraftwerke wieder Strom liefern, die nach dem Blackout automatisch vom Netz gegangen waren. In Lwiw im Westen des Landes konnten die Menschen schon am Mittwochabend wieder das Licht einschalten.

"In diesem Winter geht es schlicht ums Überleben"

Mindestens zehn Menschen kamen bei den Angriffen ums Leben. In Kiew starben Klitschko zufolge drei Menschen. Mindestens fünf Tote bargen Retter nördlich der ukrainischen Hauptstadt bis Donnerstagmittag aus den Trümmern eines vierstöckigen Wohnhauses in der Kleinstadt Wyschhorod. Und in einer Wöchnerinnenstation der Kleinstadt Wilnjansk in der Region Saporischschja starb ein zwei Tage altes Baby, als eine russische Rakete das Krankenhaus traf.

Es war der letzte von Hunderten Angriffen, bei denen Putin Krankenhäuser und andere medizinische Ziele bombardieren lässt: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat seit Kriegsbeginn 703 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen dokumentiert. Der WHO zufolge waren schon vor der Angriffswelle vom Mittwoch bis zu zehn Millionen Ukrainer ganz oder zeitweise ohne Strom. "In diesem Winter geht es schlicht ums Überleben", sagte WHO-Europadirektor Hans Kluge am Montag in Kiew.

Präsident Wolodimir Selenskij zufolge stehen im ganzen Land 4000 Aufwärmpunkte mit Heizung und Wasser, Notstrom, Telefon und Internet bereit, Ukrainer aufzunehmen - rund 1000 sind es allein in Kiew. Doch diese dürften nur einen Bruchteil der schätzungsweise drei Millionen derzeit in der Hauptstadt ausharrenden Menschen aufnehmen können.

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Ukrainische Behörden richten Zufluchtsorte für Bewohner ohne Strom und Heizung ein. Bei längerem Stromausfall werden sie so aber nicht Millionen Menschen durch den Winter bringen können.

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Regierung und Energieversorger riefen die Ukrainer auf, unversorgte Regionen zu verlassen - und nicht ins Land zurückzukehren, sollten sie ins Ausland geflüchtet sein: Dies haben dem UN-Flüchtlingshilfswerk zufolge 7,8 Millionen Ukrainer getan. Die ukrainische Eisenbahn hat es bisher immer geschafft, Schäden durch Bombentreffer schnell zu reparieren. Der Bahn zufolge verkehrten nach den jüngsten Bomben allein bis zum Donnerstagmorgen 95 Züge, wenn auch meist mit Verspätung.

Kremlsprecher Dmitrij Peskow behauptete am 17. November, die Angriffe auf die zivile Infrastruktur seien auch Folge des "Unwillens der ukrainischen Seite, das Problem zu lösen und sich auf Verhandlungen einzulassen". Im Klartext: Die Ukraine solle sich mit den Folgen des Moskauer Angriffskriegs abfinden und akzeptieren, dass Russland ein Fünftel des ukrainischen Territoriums besetzt hält.

Papst Franziskus rückt Moskaus Krieg in die Nähe des "Völkermordes" unter Stalin

Die Ukraine hat indes durch einen Beschluss des Nationalen Sicherheitsrats Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen mit Russland ausgeschlossen, solange dort Putin regiert. Präsident Selenskij nannte Moskaus Vorgehen in einer Videobotschaft an den UN-Sicherheitsrat "Energieterror" und stellte es dem Einsatz von Atom- oder Chemiewaffen gleich.

"Wenn draußen die Temperatur unter null liegt und Dutzende Millionen Menschen als Resultat der unsere Stromwerke treffenden russischen Raketen ohne Strom, Heizung und Wasser bleiben, ist dies ein offensichtliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit", so Selenskij. Zweifellos sind die russischen Angriffe Kriegsverbrechen, denn das Erste Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention von 1977 verbietet etwa in den Artikeln 51 und 52 Angriffe auf zivile Infrastruktur und Ziele.

Papst Franziskus rückte Moskaus Krieg in die Nähe des "Völkermordes" Stalins, den Holodomor, als der sowjetische Diktator 1932/33 in einer künstlich herbeigeführten Hungersnot Millionen Ukrainer sterben ließ. "Lasst uns für die Opfer dieses Völkermordes beten und lasst uns für alle Ukrainer, die Kinder, die Frauen und die Alten beten, die Babys, die heute das Märtyrertum der Aggression erleiden."

Präsident Selenskij forderte nach der jüngsten Bombenwelle, die UN zu reformieren und im UN-Sicherheitsrat das Vetorecht des "Terrorstaates" Russland bei Abstimmungen über seinen "verbrecherischen Krieg" abzuschaffen. Dafür aber wäre die Zustimmung Russlands erforderlich; auch die USA oder China dürften sich nicht darauf einlassen.

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