Es schien ein herber Schlag für die Ukraine zu sein, als Russlands Präsident Wladimir Putin zum 18. Juli 2023 das Abkommen über den Getreidekorridor im Schwarzen Meer aufkündigte - also die unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei ein Jahr zuvor geschlossene Vereinbarung, die trotz des Kriegs den Export ukrainischen Getreides aus Odessa und anderen ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer ermöglichte. Einen Tag nach Auslaufen des Abkommens drohte Moskau, auch zivile Schiffe, die künftig ukrainische Häfen anliefen, als potenzielle Waffenlieferanten anzusehen und zu versenken.
Als die ukrainische Marine am 8. August verkündete, sie werde Russlands Drohungen zum Trotz einen Seekorridor für den Export aus ihren Häfen sichern, blieben viele Beobachter ungläubig, dass dies gelingen könnte. Doch viereinhalb Monate später kann Kiew Erfolge vorweisen: Bis zum 19. Dezember waren Vize-Ministerpräsident Oleksandr Kubrakow zufolge 302 Schiffe aus 24 Ländern aus Odessa und den Nachbarhäfen Piwdenny und Tschornomorsk ausgelaufen, mit steil steigender Tendenz. Nach zwei Millionen Tonnen Fracht im Oktober und 3,8 Millionen Tonnen im November sagte Kubrakow für Dezember fünf Millionen Tonnen Fracht allein über den von der Marine gesicherten Seeweg voraus.
Nur ein Teil der Exporte auf dem Seeweg machen der Weizen, Mais oder anderes ukrainisches Getreide aus. Die Ukraine exportiert nun auch wieder Eisen- und Stahlprodukte, neben Getreide der zweite Dukatenesel für die ukrainische Wirtschaft. Und Kiew hat die Ausfuhren über die früher nebensächlichen Donauhäfen Reni und Ismail von Januar bis November 2023 im Vergleich zum Vor-Invasionsjahr 2021 auf fast 30 Millionen Tonnen mehr als verfünffacht.
Die Marine entscheidet bei jedem Schiff im Einzelfall, wann es losfahren darf
Mit all den Ausweichrouten und weiteren Exportwegen - etwa per Eisenbahn oder Lkw nach Polen und Ungarn - hat die Ukraine seit Juni bis zum 27. Dezember insgesamt bereits wieder 17,5 Millionen Tonnen Getreide ausgeführt. Im gleichen Vorjahreszeitraum, als Moskau den Getreidekorridor geöffnet ließ, waren es allerdings 22,6 Millionen Tonnen, so das ukrainische Agrarministerium. Doch im Dezember stieg der Export dem Ministerium zufolge steil an.
Angesichts der militärischen Überlegenheit Russlands und der weiterhin erheblichen Risiken grenzt es fast an ein Wunder, dass die Ukraine überhaupt wieder über seine Seehäfen Waren ausführen kann. Doch seitdem die Ukraine mit Drohnen und westlichen Raketen erfolgreich russische Kriegsschiffe angegriffen hat, verlegte Russland viele Kriegsschiffe, etwa in den entfernteren Hafen Noworossijsk.
Der Rückzug ermunterte die Ukrainer, ihre Häfen teilweise wieder zu öffnen. Seit August entscheidet die Marine bei jedem Schiff im Einzelfall, wann und wie es einen ukrainischen Hafen anlaufen oder wieder in See stechen darf. Schließlich wurden die Gewässer an vielen Stellen durch die Russen oder auch die Ukrainer selbst mit Seeminen blockiert, um eine Landung der Russen zu verhindern. Wie genau die Begleitung ziviler Schiffe aussieht - und wer der Ukraine dabei hilft -, bleibt wegen des Kriegszustands geheim. Die Nato hatte nach Moskaus Ausstieg aus dem Getreideabkommen im Juli erklärt, sie werde "Überwachung und Aufklärung in der Schwarzmeerregion erhöhen".
Der Seetransport hat einen entscheidenden Vorteil: Er ist billiger als jeder andere. Ukrainische Exporteure zahlen für den Seetransport einer Tonne Getreide zwischen 70 und 80 Dollar. Per Eisenbahn oder Lkw wird bis zum Dreifachen fällig. Freilich bleibt nicht nur der Weg durchs Schwarze Meer ein Risiko. Schon das Verladen in den ukrainischen Häfen ist gefährlich: Am 9. November etwa traf Russland mit einer Rakete ein unter der Flagge von Liberia im Hafen von Odessa liegendes Schiff.
Ein Ukrainer starb, vier Crewmitglieder wurden verletzt - in der Folge stiegen die Prämien für die Versicherung der Schiffe, die den gefährlichen Weg in die ukrainischen Häfen wagten. Dem ukrainischen Institut für strategische Schwarzmeerstudien zufolge laufen nun verstärkt China gehörende Schiffe die ukrainischen Häfen an. Sie setzen offenbar darauf, dass Putin es nicht wagen werde, chinesische Schiffe bombardieren zu lassen.
Allerdings greift Russland auch weiterhin Odessa und andere Schwarzmeerhäfen mit Raketen und Drohnen an ebenso wie die ukrainischen Donauhäfen Reni und Ismail. Allein seit Aufkündigung des Getreideabkommens hat Moskau mehr als 160 Verladestationen, Getreidesilos und andere Einrichtungen in den Häfen bombardiert und dabei bis Ende November gut 300 000 Tonnen Getreide in Flammen aufgehen lassen, so Samantha Power, Chefin der staatlichen US-Hilfsagentur USAID. Die Vereinigten Staaten liefern Ersatz für zerstörte Einrichtungen und helfen, auch den ukrainischen Export auf dem Land zu steigern, vor allem über Moldau und Rumänien. Aus Rumänien können Schiffe ukrainisches Getreide oder Stahl über den Hafen Constanța auf die Weltmärkte bringen.
Erst am Mittwoch lief ein Frachter auf eine Seemine auf
Um die Seeroute zu sichern, begannen ein rumänischer und sechs bulgarische Minenräumer Mitte Oktober, küstennahe Gewässer für den Export aus der Ukraine von Minen zu säubern, so Andri Klymenko vom Institut für strategische Schwarzmeerstudien. Auch die Türkei will sich beteiligen. Großbritannien schickt ebenfalls Minenräumer ins Schwarze Meer.
Die Arbeit ist selbst für die Spezialisten nicht ungefährlich, schon im September 2022 hatte eine Minenexplosion einen rumänischen Minenräumer manövrierunfähig gemacht. Anfang Oktober wurde ein türkischer Frachter leicht beschädigt, als er 20 Kilometer vom rumänischen Hafen Sulina entfernt auf eine Mine lief. Am Mittwoch brach an Bord eines panamesischen Schiffs nach ukrainischer Darstellung ein Feuer aus, nachdem es auf eine russische Mine gelaufen war. Der Kapitän und ein Matrose wurden verletzt.
Die Zusammenarbeit mit Rumänien ist für die Ukraine zentral - erst recht, nachdem polnische Transporteure wochenlang die Grenze zu Polen für die Ukrainer blockiert hatten. Rumänien modernisiert neben Sulina vor allem seinen größten Hafen Constanța und in Richtung Ukraine führende Straßen und Eisenbahnlinien. Auch diese Verbindungen sind aber angreifbar. Die südwestlich von Odessa über eine Meerenge und weiter nach Moldau und Rumänien führende Zatoka-Straßen- und Eisenbahnbrücke griff Moskau seit Beginn des Überfalls viermal mit Raketen oder Seedrohnen an und zerstörte sie so gründlich, dass ein Wiederaufbau unmöglich ist, sagte der Vize-Chef der Militärverwaltung von Odessa Mitte Dezember. Ein Neubau dürfte Monate, wenn nicht Jahre dauern. Wiederaufgebaut werden müssen auch etliche andere durch russische Bomben zerstörte Hafenobjekte. Auch diese können freilich wieder durch russische Raketen oder Drohnen getroffen werden. Noch reichen in Odessa und anderen Orten stationierte westliche Luftabwehrsysteme bei Weitem nicht aus, um alle russischen Angriffe abzufangen.