Krieg in der Ukraine:Ein Vorstoß, der Russland Probleme machen könnte

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Die zerstörte Antoniwkabrücke, hier auf einem Bild vom November. (Foto: Libkos/dpa)

Ukrainischen Truppen ist es offenbar gelungen, auf die besetzte Seite des Dnjepr überzusetzen. Für die russischen Angreifer ist dies keine gute Nachricht - denn sie erwarten Angriffe aus einer anderen Richtung.

Von Nicolas Freund

Der ukrainischen Armee ist möglicherweise bei der Stadt Cherson ein Vorstoß über den Fluss Dnjepr gelungen. Das berichtete am Wochenende das Institute for the Study of War in Washington, D.C., unter Berufung auf russische Militärblogger. Diese hatten teilweise geolokalisierte Videos veröffentlicht, in denen die Landung von Booten am östlichen Flussufer und Gefechte zu sehen sind, einige davon nur wenige Hundert Meter von der nächsten Stadt Oleschky entfernt. In der Vergangenheit waren die Berichte dieser Blogger oft zutreffend, nun haben mehrere Kanäle von der Präsenz ukrainischer Truppen am Ostufer berichtet. Obwohl sie auf der Seite Russlands stehen, sind ihre Analysen dem eigenen Militär gegenüber sehr kritisch und in der Regel keine Propaganda.

(Foto: SZ-Karte: jfk/Mapcreator.io/OSM/ISW)

Der von Russland eingesetzte Verwalter der besetzten Gebiete bei Cherson widersprach diesen Berichten allerdings und teilte mit, das russische Militär habe nach wie vor die vollständige Kontrolle über das Gebiet. Ein Sprecher der ukrainischen Armee wollte die angebliche Einnahme des Ostufers dagegen weder bestätigen noch dementieren.

Obwohl die genaue Lage unklar ist, sind derartige Vorstöße nicht unwahrscheinlich. Bereits im vergangenen Jahr lieferten die USA an die ukrainische Armee 58 gepanzerte Patrouillenboote, die besonders für solche Landeoperationen geeignet sind, wie sie von den Bloggern beschrieben werden. Obwohl sich die Truppen beider Seiten zuletzt an der Front im Donbass konzentrierten, haben die Kämpfe bei Cherson nie nachgelassen, seitdem die Stadt im November von der ukrainischen Armee zurückerobert worden war. Seit Monaten ringen russische und ukrainische Truppen um die Kontrolle über die Inseln im Mündungsdelta des Dnjepr, Cherson ist regelmäßig das Ziel russischer Artillerieangriffe.

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Wie groß die Präsenz der ukrainischen Armee am Ostufer genau ist und welche Ziele dort verfolgt werden, lässt sich derzeit nicht sagen. Alleine, dass ukrainischen Truppen anscheinend die Landung gelungen ist, spricht dafür, dass die russische Armee ihre Präsenz in der Region stark reduziert hat - womöglich in Erwartung der lange angekündigten ukrainischen Gegenoffensive an anderen Frontabschnitten und weil sie den an dieser Stelle mehrere Hundert Meter breiten Dnjepr für eine ausreichende natürliche Verteidigung gehalten hat.

Tatsächlich ist eine große ukrainische Offensive mit Hunderten Fahrzeugen und Tausenden Soldaten in dieser Region eher nicht zu erwarten. Die Antoniwkabrücke über den Dnjepr ist, soweit bekannt, noch immer nicht passierbar, nachdem sie im November von russischen Truppen auf dem Rückzug teilweise gesprengt worden war. Obwohl die ukrainische Armee wahrscheinlich in der Lage ist, eine Behelfsbrücke zu errichten, wäre die Überquerung des Stroms ein großes Risiko. Die russische Armee ist bei ähnlichen Manövern von der ukrainischen Artillerie schwer getroffen worden, und es ist kaum vorstellbar, dass Kiew die mühsam vom Westen eingeworbenen Kampf- und Schützenpanzer so zu einem so leichten Ziel machen würde.

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Trotzdem stellt ein solcher ukrainischer Vorstoß für die Besatzer eine Bedrohung war. Die russischen Verteidigungslinien sind an dieser Stelle, soweit bekannt, wesentlich schwächer als an anderen Orten der Front. Sollte es der ukrainischen Armee gelingen, am Ostufer des Dnjepr Fuß zu fassen, hätte die russische Armee gleich mehrere Probleme: Sie müsste Truppen aus dem Donbass und der Region Saporischschja abziehen, wo sie aber jeden Tag mit einer ukrainischen Gegenoffensive rechnen muss; die Verteidiger von Melitopol und der südlichen Front müssten mit Angriffen in ihrem Rücken rechnen; und große Teile der besetzten Krim wären in Reichweite der ukrainischen Artillerie sowie der Himars-Raketenwerfer.

Die russische Armee scheint ihre Gegenmaßnahmen bereits intensiviert zu haben. So wurden laut ukrainischem Generalstab erneut Angriffe mit Drohnen größtenteils abgewehrt. Auch sollen Zivilisten aus den von Russland besetzten Gebieten der Oblast Cherson gebracht worden sein. Möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die russischen Besatzer mit schweren Kämpfen in der Region rechnen.

In New York ist unterdessen der russische Außenminister Sergej Lawrow eingetroffen. Er soll am Montag und Dienstag Sitzungen des UN-Sicherheitsrats zur Lage im Nahen Osten leiten. Auch ein Gespräch zwischen Lawrow und UN-Generalsekretär António Guterres zur Verlängerung des Getreideabkommens ist geplant. Russland hat in diesem Monat turnusmäßig den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat und kann die Tagesordnung bestimmen. Am Montag warf Lawrow in dem Gremium dem Westen hegemoniale Pläne vor und verteidigte den Einmarsch seines Landes in die Ukraine. Die "Ukraine-Frage" könnte nicht losgelöst von der geopolitischen Entwicklung betrachtet werden, die Nato habe Russlands Sicherheit in der Region über Jahre bedroht. UN-Generalsekretär António Guterres kritisierte Russland in dem Gremium wegen der Invasion der Ukraine scharf. Wie Guterres betonte die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield, Moskau habe die Grundregeln der UN-Gemeinschaft verletzt: "Während wir hier sitzen, geht diese Aggression weiter. Während wir hier sitzen, töten und verletzen russische Streitkräfte weiterhin Zivilisten", sagte sie. "Während wir hier sitzen, bereiten wir uns auf das nächste Butscha, Mariupol, das nächsten Cherson vor. Das nächste Kriegsverbrechen. Die nächste skrupellose Gräueltat."

Russland hatte schon in einer der ersten Sitzungen unter seinem Vorsitz einen Eklat verursacht, als die mit einem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gesuchte Maria Lwowa-Belowa für einen Vortrag per Video zugeschaltet wurde.

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