Waffenlieferungen:"Unfähigkeit der EU frustrierend"

Waffenlieferungen: Diese Artilleriegranaten werden in einer Fabrik im Süden Frankreichs hergestellt und in die Ukraine geliefert.

Diese Artilleriegranaten werden in einer Fabrik im Süden Frankreichs hergestellt und in die Ukraine geliefert.

(Foto: LIONEL BONAVENTURE/AFP)

Eine Million Artilleriegranaten innerhalb von zwölf Monaten hat die EU kürzlich der Ukraine versprochen. Doch weil Frankreich darauf besteht, dass diese ausschließlich aus EU-Ländern kommen, gerät der Zeitplan in Gefahr. Der ukrainische Außenminister ist empört.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Die Europäer waren sehr stolz auf ihren Beschluss. Eine Million Artilleriegranaten werde die EU der Ukraine in den nächsten zwölf Monaten liefern, damit das Land sich gegen die russischen Angreifer wehren könne - das versprachen die Außen- und Verteidigungsminister der Union bei einer gemeinsamen Sitzung am 20. März in Brüssel. Die EU-Länder würden dafür zwei Milliarden Euro bereitstellen, hieß es. Das sei eine historische Entscheidung, schwärmte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. "Das Ziel ist zu liefern, und zwar schnell", sagte er.

Drei Tage später, am 23. März, bekräftigten die Staats- und Regierungschefs der EU bei einem Gipfeltreffen das Versprechen. "Wir haben darüber beraten, wie wir damit möglichst schnell vorankommen können", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach dem Treffen.

Doch dann begann, was in der EU so oft beginnt, wenn es darum geht, aus Zahlen und Worten, die mit Pomp in Abschlusserklärungen geschrieben werden, Realität werden zu lassen: ein zähes Ringen zwischen den Mitgliedsstaaten, um unterschiedliche nationale Interessen auf einen Nenner zu bringen. Das Ergebnis ist ernüchternd. An diesem Montag treffen sich die Außenministerinnen und -minister wieder, dieses Mal in Luxemburg. Und es ist immer noch nicht klar, wie genau die Artilleriemunition für die Ukraine besorgt werden soll.

Vor einem Monat hatten die EU-Länder sich, grob gesagt, auf zwei Beschaffungswege geeinigt. Eine Milliarde Euro sollte dazu verwendet werden, um europäische Staaten zu entschädigen, die der Ukraine Artilleriegranaten aus ihren existierenden Beständen geben. Auf diesem Weg sollte das Land schnell Nachschub an Munition für seine Artilleriegeschütze bekommen. Die ukrainische Armee braucht vor allem Granaten vom Kaliber 155 Millimeter - und sie braucht viele. Während die russischen Truppen täglich etwa 20 000 Schuss verfeuern können, müssen die ukrainischen Verteidiger sich auf 5000 bis 7000 Schuss beschränken. Für die geplante Frühjahrsoffensive reicht das nicht.

Um die zweite Milliarde gibt es Streit

Von dieser ersten Milliarde sind nach EU-Angaben inzwischen knapp 670 Millionen Euro ausgegeben. Das heißt: Verschiedene EU-Staaten haben Munition aus ihren Lagern an die Ukraine abgegeben und in Brüssel eine Erstattung der Kosten beantragt.

Um die zweite Milliarde gibt es dagegen Streit. Diese war dafür vorgesehen, dass die EU-Länder zusammen Artilleriemunition für die Ukraine einkaufen; dass sie also nicht mehr wie bisher einzeln Aufträge an die Rüstungsfirmen vergeben, sondern als mächtiger, geeinter Großkunde auftreten. Ein zentralisierter Einkauf von Granaten - das wäre eine grundlegend neue Art der Rüstungszusammenarbeit in der EU. Allerdings ist von dieser Milliarde noch kein Cent ausgegeben worden, kein einziger Schuss Munition wurde damit bezahlt.

Denn es gibt in der Union sehr unterschiedliche Vorstellungen dazu, bei wem die EU mit diesem Geld einkaufen darf. Vor allem Frankreich fordert, dass die bereitgestellte zweite Milliarde nur an Rüstungsfirmen in der EU sowie Norwegen fließen soll. So stand es auch im Beschluss der Außen- und Verteidigungsminister vom März. Allerdings hatten etliche Staaten - darunter Deutschland - damals klargestellt, dass sie bereit wären, notfalls mit dem europäischen Geld auch in den USA, Japan oder Südkorea Munition für die Ukraine zu kaufen, falls das schneller ginge oder die Rüstungsfabriken in Europa Kapazitätsprobleme hätten.

Aus Sicht der osteuropäischen Verbündeten der Ukraine ist dieser Fall längst eingetreten. Deswegen fordert zum Beispiel Polen, dass die EU auch bei außereuropäischen Rüstungsherstellern einkauft. Die Regierung in Paris stellt sich allerdings hartnäckig quer.

Der Streit eskalierte vorige Woche bei einer Sitzung der EU-Botschafter und führte zu scharfen wechselseitigen Vorwürfen. Zuvor hatte sich auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba mit einer höchst undiplomatischen Rüge eingemischt. "Die Unfähigkeit der EU, ihren eigenen Beschluss über die gemeinsame Beschaffung von Munition für die Ukraine umzusetzen, ist frustrierend", twitterte er. Das sei aus seiner Sicht eine verständliche, aber keine hilfreiche Intervention gewesen, heißt es in Brüssel.

Dass die EU in den USA oder Asien Granaten einkauft, wird wohl nicht erlaubt werden

Auch andere EU-Regierungen als die in Warschau schauen mit Befremden auf die Franzosen. Der Verdacht: Paris wolle vor allem die europäische, besser noch die französische Rüstungsindustrie mit Geld der EU fördern. Das Ziel müsse aber doch sein, der Ukraine möglichst rasch möglichst viele Granaten zu liefern, sagt ein hochrangiger Diplomat etwas genervt. Die Stärkung der heimischen Rüstungsunternehmen sei ein verständliches, auch lobenswertes, im Moment aber zweitrangiges Ziel.

Nach Angaben von Diplomaten werden die EU-Länder wohl in den kommenden Tagen eine Lösung dafür finden, wie die zweite Milliarde ausgegeben werden darf. An den Details wird noch gefeilt, doch dass die EU als Einheit bei Unternehmen in Nordamerika oder Asien fertige, abschussbereite Granaten einkauft, wird wohl nicht erlaubt werden - selbst wenn diese sofort lieferbar wären. Stattdessen suchen die Juristen in Brüssel und den EU-Hauptstädten Formulierungen, die sicherstellen, dass die weltweiten Lieferketten von europäischen Munitionsproduzenten nicht beeinträchtigt werden - sprich: dass Firmen also weiterhin aus dem außereuropäischen Ausland Rohstoffe und Komponenten beziehen können, aus denen dann in Europa Artilleriegranaten gebaut werden. Diese darf die EU dann kaufen.

Im Kern gehe es darum, genau zu definieren, was an europäischer Munition das Europäische sei, sagt ein Diplomat. Worum es offenbar nicht mehr ganz so sehr geht, ist, dass die EU ihr Versprechen an die Ukraine hält: eine Million Granaten in zwölf Monaten.

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