Ukraine:Hunderttausende Rekruten?

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Eines der neuen Gesetze sieht zum Beispiel vor, das Einzugsalter von 27 auf 25 Jahre zu senken: ukrainische Einheiten bieten militärisches Training für Zivilisten an, um neue Rekruten zu werben. (Foto: Ashley Chan/SOPA/IMAGO)

Präsident Selenskij hat verschiedene Gesetze unterschrieben, um mehr Männer für den Kriegsdienst einzuziehen. Die Armee hält den Schritt für längst überfällig, Verfassungsexperten kritisieren ihn.

Von Nicolas Freund

Jetzt hat er es doch getan: Lange wollte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij nichts von weiteren Mobilisierungen wissen, nun hat er gleich mehrere Gesetze unterschrieben, die es leichter machen sollen, mehr Männer für den Kriegsdienst einzuziehen. So soll das Alter für die Einberufung für Männer ohne militärische Vorerfahrung von 27 auf 25 Jahre gesenkt werden. Bislang konnten Männer ab 18 Jahren zwar eingezogen, aber nicht zum Einsatz an die Front geschickt werden, außer sie meldeten sich dafür freiwillig oder hatten zuvor gedient. Frauen sind vom Pflichtdienst nach wie vor ausgenommen.

Außerdem wird der Status "teilweise tauglich" abgeschafft, Rekruten sind entweder "tauglich" für den Wehrdienst, oder sie sind es nicht. Viele, die bisher in die mittlere Kategorie fielen, aber nicht eingezogen wurden, könnten nun doch mobilisiert werden.

Zuletzt hatten sich kaum noch Freiwillige gemeldet

Theoretisch soll es so möglich sein, bis zu 400 000 Männer einzuziehen, tatsächlich werden es aber wahrscheinlich deutlich weniger sein. Das ukrainische Militär schätzte die Zahl möglicher neu einberufener Rekruten durch die Absenkung des Einberufungsalters auf 140 000. Zudem soll ein elektronisches Wehrregister eingeführt leben, in dem sich auch im Ausland lebende Ukrainer anmelden müssen, wenn sie zum Beispiel beim Konsulat ihren Pass verlängern oder andere Dienste in Anspruch nehmen wollen.

Aus Sicht der Armee ist dieser Schritt überfällig gewesen. Selenskijs ehemaliger Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj hatte bereits im November gefordert, etwa eine halbe Million neuer Soldaten einzuziehen. "Mit wem soll ich kämpfen?", hatte er im Parlament gefragt. Die Rekruten sind einerseits nötig, um die Lücken zu schließen, die durch wahrscheinlich mehr als 150 000 Gefallene, Gefangene und Verwundete entstanden sind - aber auch, um den Soldaten, die seit zwei Jahren im Dauereinsatz sind, eine Auszeit zu ermöglichen.

Zuletzt hatten sich, anders als zu Beginn des Krieges, kaum noch Ukrainer freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Dazu kommen eine florierende Korruption in Teilen des Mobilisierungsapparats und der Verwaltung sowie viele Schlupflöcher für Männer, die nicht an die Front wollen. Im Sommer 2023 entließ Selenskij deshalb die Leiter aller regionalen Wehrämter.

Bis an der Front tatsächlich neue Soldaten kämpfen, wird es noch dauern

Die neuen Gesetze werden fraglos zu mehr Einberufungen führen, ob sie die bisherigen Probleme lösen, ist alles andere als klar. Die Gesetze wurden auch so lange nicht unterzeichnet, weil sie mehrmals überarbeitet werden mussten. Experten, darunter auch der Juristische Dienst des Parlaments, hatten bemängelt, dass sie verfassungswidrig seien, beispielsweise indem sie die Reisefreiheit einschränken. Ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land allerdings ohnehin nicht verlassen.

Aber auch Details wie die Pflicht, sich in einem neuen elektronischen Verzeichnis zu registrieren oder nur Studenten, jedoch keine Doktoranden vom Wehrdienst auszunehmen, sind laut Experten verfassungswidrig. Abgeordnete wie Iryna Fris warfen dem Gesetz außerdem vor, das Tor für neue Korruptionsmöglichkeiten zu öffnen. Der Entwurf wurde zwar Anfang des Jahres überarbeitet, nach Ansicht von Experten hat das an den Problemen aber nichts geändert.

Bis das Gesetz tatsächlich zu mehr ukrainischen Soldaten auf dem Schlachtfeld führt, wird es indessen noch lange dauern. Die Regierung hat nach der Veröffentlichung der Novelle im Amtsblatt ein halbes Jahr Zeit für die Umsetzung. Danach erst können die Einberufung und die Ausbildung beginnen. Rekruten auf einen Einsatz an der Front vorzubereiten, dauert im Normalfall mehrere Monate. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die ukrainische Armee frühestens im Herbst oder sogar erst im kommenden Jahr mit einer signifikanten Zahl an neu einberufenen Soldaten rechnen kann.

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