Ukraine als EU-Beitrittskandidat:"Gewinnen werden wir in jedem Fall"

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Ukrainer demonstrieren ihren Beitrittswillen in Brüssel, unterstützt von Europaabgeordneten. (Foto: Yves Herman/Reuters)

Freude und Genugtuung sind groß in der Ukraine, nachdem das Land zum Beitrittskandidaten der EU erklärt wurde. In Kiew ist in dieser historischen Nacht jedoch auch Bitterkeit zu spüren.

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

Als die frohe Nachricht am Abend aus Brüssel kam, war es in Kiew längst dunkel. Die Ukraine ist Belgien eine Stunde voraus; als die ersten Tweets vom EU-Gipfel gesendet wurden, dass die Ukraine und die Republik Moldau den Status als EU-Beitrittskandidaten erhalten hätten, war es in Kiew kurz nach 21 Uhr. Die meisten Restaurants und Bars sind um diese Zeit geschlossen, die Straßen fast leer - die Sperrstunde, die seit dem Krieg gilt, beginnt um 23 Uhr.

Und so blieb es dem omnipräsenten ukrainischen Präsidenten, dem die meisten seiner Landsleute auf den sozialen Medien folgen, überlassen, seiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen.

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Bevor er zum Dinner der Staats- und Regierungschefs in Brüssel live zugeschaltet wurde, versandte er ein kurzes Video, das er offenbar mit seinem Handy selbst aufgenommen hatte, und teilte den Ukrainern mit, nun sei es so weit. Europa, die EU in greifbarer Nähe. "Jetzt gewinnen wir erst den Krieg gegen den Feind und werden uns dann entspannen. Besser noch: Wir bauen zuerst die Ukraine wieder auf, und dann entspannen wir uns. Oder wir gewinnen, dann bauen wir die Ukraine auf, und dann treten wir der EU bei - und dann entspannen wir uns." Gewinnen, so der Präsident, "gewinnen werden wir in jedem Fall".

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Das ukrainische Fernsehen, dessen Sender zu Kriegsbeginn von der Regierung zur Zusammenarbeit in einem sogenannten "TV-Marathon" gezwungen wurden und die nun ein gemeinsames Programm senden, zeigte einen vor Begeisterung regelrecht bebenden Soldaten, der die Nationalhymne sang, bevor sie mit ihren Sondersendungen und Schalten nach Brüssel begannen. Zahlreiche Regierungsberater und außenpolitische Experten traten auf, Außenminister Dmytro Kuleba sprach von "Blut und Tränen".

Aber das wichtigste im Abend-und Nachtprogramm blieb dann doch der Krieg im Donbass mit Reportagen aus Frontstädten und Berichten aus der umkämpften Stadt Sjewjerodonezk, aus der sich die ukrainische Armee wenige Stunden später zurückziehen sollte. Während die EU-Staatschefs in den zweiten Tag des Gipfels gingen, teilte der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, mit, es habe "keinen Sinn, in zerstörten Stellungen auszuharren". Das bedeutet aber auch, dass Russland die strategisch wichtige Stadt und damit praktisch fast den gesamten Bezirk Luhansk erobert hätte. Für die Nachricht, dass die Ukraine eines sehr, sehr fernen Tages vielleicht Mitglied der EU werden könnte, blieb da nicht mehr genug Energie. Eine landesweit bekannte Aktivistin twitterte, sie freue sich, aber irgendwie sei ihr die Fähigkeit zur Freude dann doch in den vergangenen vier Monaten abhandengekommen.

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Auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum Kiews, auf dem sonst alle wichtigen Ereignisse beginnen oder ein Ende finden, war kaum etwas los. Neben der Prachtstraße, die am Maidan vorbeiführt, stecken Hunderte blau-gelbe Fähnchen für die Gefallenen im Gras, aber auch die europäische Fahne hängt an vielen Gebäuden, Statuen sind damit eingewickelt. So vermischen sich derzeit Trauer und Euphorie.

Die Mischung aus Bitterkeit, Freude und Genugtuung, die in dieser historischen Nacht in Kiew spürbar war, zeigte sich auch darin, dass zahlreiche Ukrainer sich noch einmal eine besonders bekannte Szene aus Selenskijs früherer TV-Serie "Diener des Volkes" anschauten und in den sozialen Medien teilten. Selenskij war bekanntlich Schauspieler, bevor er Präsident wurde, und spielte in seiner Erfolgsshow den Lehrer Wassyl Holoborodko, der ungewollt zum Staatspräsidenten wird. Eine kurze Szene zeigt ihn auf dem Weg in den Präsidialpalast, als er einen Anruf von Angela Merkel entgegennimmt. Diese beglückwünscht ihn dazu, dass sein Land in die EU aufgenommen werde, man habe das gerade beschlossen. Der Präsident springt vor Freude in die Luft und bedankt sich sehr im Namen der Ukraine. Merkel stutzt, und korrigiert sich dann: Sorry, Missverständnis, sie habe gar nicht in der Ukraine anrufen wollen, es gehe um einen anderen Staat.

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Nun, diesmal war die Nachricht echt. Und der echte Präsident, Wolodimir Selenskij, nahm sie im Namen all seiner Landsleute, die auf diesen Tag gehofft hatten, entgegen. Am Morgen danach, in aller Herrgottsfrüh, nahm Selenskij dann noch ein Video auf - am Hochufer des Dnipro, und er klang ziemlich trotzig. Vor 120 Tagen habe Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Aber man werde nicht weichen, nicht aufgeben. Sein Land sei keine Pufferzone zwischen Europa und Asien, kein Transit-Territorium zwischen Russland und dem Westen. Die Ukraine, so Selenskij, sei ein strategischer, integraler Teil Europas. "Der Status als Beitrittskandidat ist nicht nur ein Kapitel, sondern ein ganzes Buch in der Geschichte der europäischen Integration der Ukraine, das wir heute zu schreiben begonnen haben." Man werde den 27 Partnern ein starker Partner sein. Er sei selten so stolz und so froh gewesen.

Der Kreml reagierte erst Stunden nach der Mitteilung aus Brüssel auf den Kandidatenstatus der Ukraine und von Moldau - und das auch erst einmal ungewohnt wolkig. Regierungssprecher Dmitrij Peskow teilte mit, das Ganze sei "erst einmal eine innereuropäische Angelegenheit". Allerdings müssten beide Länder wie auch die gesamte EU darauf achten, dass sich die Beziehungen nicht noch weiter verschlechterten. "Sie sind ja auch so schon reichlich verdorben."

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